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Bewegung ohne Muskeln

Archivmeldung vom 12.05.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 12.05.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Die Schwammart "Tethya wilhelma" (hier eine Kolonie im Aquarium) ist inzwischen Modellorganismus für viele evolutionäre Fragestellungen und wesentliches Untersuchungsobjekt in der aktuellen Studie von PD Dr. Michael Nickel von der Universität Jena. Foto: Michael Nickel/FSU
Die Schwammart "Tethya wilhelma" (hier eine Kolonie im Aquarium) ist inzwischen Modellorganismus für viele evolutionäre Fragestellungen und wesentliches Untersuchungsobjekt in der aktuellen Studie von PD Dr. Michael Nickel von der Universität Jena. Foto: Michael Nickel/FSU

Alle Tiere bewegen sich – Geparden schneller, Schnecken langsamer. Grundlage aller Bewegungen sind Muskelkontraktionen, lautet zumindest die landläufige Meinung. Es gibt jedoch auch Tiergruppen, die keine Muskeln besitzen, da sie sich in der Entwicklungsgeschichte vor der eigentlichen evolutionären Entstehung von Muskelzellen abzweigten. Diese Tiergruppen, etwa die Schwämme der Weltmeere und Seen, sind jedoch nicht unbeweglich. Schwämme sind in der Lage, sich ohne Muskeln zusammenzuziehen. Diese Kontraktion kannten schon Schwammtaucher im antiken Griechenland, wie bereits Aristoteles 350 vor Christus beschrieben hat.

Wie Bewegung ohne Muskeln funktioniert, untersucht eine Forschergruppe um Privatdozent Dr. Michael Nickel von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Forscher vom Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie interessiert vor allem der evolutionäre Aspekt, genauer die Frage: Aus welchen evolutionären Vorläufern entstanden Muskelzellen?

In einer aktuellen Studie, die im Journal of Experimental Biology (Band 214, doi: 10.1242/jeb.049148) am 15. Mai 2011 veröffentlicht wird, geben die Evolutionsbiologen aktuelle Antworten auf die Frage, welche Zellen in Schwämmen kontrahieren. Die Forscher stützen sich dabei auf 3-dimensionale (3D) Aufnahmen, die sie mittels Synchrotron-strahlungsbasierter Röntgen-Mikrotomographie angefertigt haben. Damit konnten die Jenaer Forscher in Kooperation mit dem Helmholtz-Zentrum Gesthacht am Deutschen Elektronen Synchrotron Hamburg die 3D-Struktur von kontrahierten und expandierten Schwämmen vergleichen und visualisieren.

„Das Besondere an unserer Herangehensweise ist jedoch, dass wir die 3D-Daten nutzen, um Volumen- und Oberflächenmessungen in unseren Schwämmen durchführen“, so Nickel. „Diese 3D-Volumetrie-Methode ist zwar in den technischen Wissenschaften weit verbreitet, wird in der Zoologie jedoch bisher – trotz ihres enormen Informationspotenzials – kaum genutzt“. Auf diese Weise konnte Nickels Team zeigen, dass die inneren und äußeren Oberflächen und damit die Epithelienzellen, sogenannte Pinacozyten, die starken Körperkontraktionen der Schwämme verursachen. Dadurch können die Jenaer Wissenschaftler auch eine über Hundert Jahre währende Kontroverse über die zelluläre Kontraktionsursache entscheiden. Als kontraktile Kandidaten waren bisher sowohl spindelförmige Zellen im Gewebe der Schwämme gehandelt worden, als auch die Epithelzellen – die Jenaer Forscher haben jetzt den Verursacher eindeutig identifiziert.

Die aktuellen Ergebnisse der Jenaer Forscher ermöglichen neue Denkansätze zur evolutionären Entstehung von Muskelatur. „Die frühe Evolution von Muskeln ist bisher völlig unverstanden. Muskelzellen scheinen in der Evolution – nach aktueller Datenlage – nahezu aus dem Nichts aufgetaucht zu sein“, so Nickel. „Es muss jedoch evolutionäre Vorläufersysteme gegeben haben, die bisher unerkannt geblieben waren.“ Die Schwamm-Epithelzellen rücken nun als heiße Kandidaten für die weitere Erforschung der Zusammenhänge in den Mittelpunkt des Interesses der Evolutionsbiologen. „Es spricht vieles dafür, dass Schwamm-Epithelien und die Muskelzellen der übrigen Tiere evolutionär auf einen gemeinsamen kontraktionsfähigen Zellvorfahren zurückgehen“. Dies soll in Zukunft in internationalen Kooperationen, auch unter Nutzung von Genom- und Genexpressionsdaten, geprüft werden.

Michael Nickel feiert mit dieser Veröffentlichung auch einen kleinen Geburtstag. Vor exakt zehn Jahren beschrieb der Jenaer Forscher – damals noch Doktorand an der Universität Stuttgart – die im dortigen Zoologisch-Botanischen Garten Wilhelma entdeckte Schwammart Tethya wilhelma. Dieser Schwamm ist noch immer das ‚Haustier’ in Nickels Arbeitsgruppe – heute gezüchtet in Meerwasseraquarien am Institut in Jena – und wesentliches Untersuchungsobjekt in der aktuellen Studie. Als möglicher Modellorganismus für evolutionäre Fragestellungen hat der kleine weiße Schwamm im letzten Jahrzehnt regelmäßig Eingang in Forschungsprojekte gefunden und dient als Forschungsobjekt für immer mehr Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt.

Quelle: Friedrich-Schiller-Universität Jena

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