Filme ansehen erfordert Spezialwissen
Archivmeldung vom 17.07.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittErwachsene Menschen, die noch nie zuvor ein Video gesehen haben, können der Handlung heutiger Filme kaum folgen. Das zeigen deutsche und türkische Medienforscher in der Fachzeitschrift "Psychological Science". Sie haben Menschen in Bergdörfern der Südtürkei besucht, ihnen Filmclips gezeigt und sie anschließend befragt. Die Erkenntnis: Nur unserer Medienbildung verdanken wir es, dass wir Video, Fernsehen oder Kino verstehen können.
Ein gängiger Mythos ist, dass die ersten Kinobesucher erschreckt von ihren Stühlen aufgesprungen sind. Sie sollen die Eisenbahn auf der Leinwand mit einem echten Zug verwechselt haben. "Stimmt sicher nicht", urteilt der Tübinger Studienautor Stephan Schwan. Auf der Suche nach auch heute noch völlig Video-unerfahrenen Menschen stieß er auf die anatolischen Bergbauern. Ihnen präsentierte er eine Reihe kurzer Videosequenzen. Für real hielt keiner der Zuseher das Gesehene.
Dennoch nehmen Filmneulinge Videos völlig anders wahr als mit dem
Medium Vertraute. Zum Problem werden vor allem die typischen
Darstellungsmittel wie Wechsel der Kameraperspektive im Gespräch,
Zeitsprünge zur Zusammenfassung des Geschehens oder auch der Wechsel zur
Perspektive des Hauptdarstellers. Erst wenn vertraute Handlungen im
Spiel waren wie die Zubereitung von Tee oder Mahlzeiten, gelang den
Bauern die richtige Deutung. In allen anderen Situationen verwirrte sie
das Gesehene bloß.
Schneller, brutaler, raffinierter
"Bewegtbilder zu verstehen ist Teil der heutigen Sozialisation", betont Michael Bloech vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis im Gespräch mit pressetext. Zu diesem Spezialwissen gehört etwa, dass aus zwei auf einander folgenden Szenen im Kopf bereits eine dritte entsteht. "Man sieht etwa einen auf den Zuseher gerichtete Pistole und hört in der nächsten Szene einen Knall und einen Schrei. Ohne es gesehen zu haben ist klar, dass hier jemand erschossen wurde."
Dramaturgie, Technik und Ästhetik des Films stehen nie still. "Es wird schneller, brutaler, raffinierter. Das ist keine Revolution, sondern ein steter Wandel, der unauffällig ist da wir uns selbst weiterentwickeln. Nie wird ein Film kommen, der zu komplex ist um ihn zu verstehen", so Bloech. Anderes gilt für Menschen, die mit dem Medium nie in Berührung kamen. Deren Zahl ist jedoch selbst in entlegenen Gebieten verschwindend klein. "Die Filmhandlung dürfte jeder verstehen, zumindest bei einfacher Darstellung. Denn die Gestaltung mit Konflikt, Zuspitzung und Auflösung ist universell in allen Märchen und Mythen", erklärt der Experte.
Quelle: pressetext.deutschland Johannes Pernsteiner