Ursache der extremen Festigkeit der Spinnenseide entschlüsselt
Archivmeldung vom 17.08.2011
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtSie ist fünfmal so reißfest wie Stahl und übertrifft selbst die derzeit besten synthetischen Fasern: Spinnenfäden sind ein faszinierendes Material. Doch niemand kann sie bislang in industriellem Maßstab herstellen. Nun gelang es Wissenschaftlern der TU München (TUM) und der Universität Bayreuth (UBT) ein weiteres Geheimnis der Seidenproteine zu lüften und dem Mechanismus, der die Spinnenseidefäden so stabil macht, auf die Spur zu kommen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der Fachzeitschrift Angewandte Chemie.
„Die Festigkeit des Abseilfadens der Spinnen übertrifft die jedes im Labor hergestellten Materials bei weitem. Alle Versuche, Fäden ähnlicher Festigkeiten herzustellen, scheiterten bisher“, sagt Professor Horst Kessler, Carl-von-Linde Professor am Insitute for Advanced Study der TU München (TUM-IAS). Zusammen mit der Arbeitsgruppe um Professor Thomas Scheibel, der bis 2007 an der TU München forschte, und nun Professor am Lehrstuhl für Biomaterialien der Universität Bayreuth ist, ist sein Team seit einigen Jahren dem Geheimnis der Spinnenseidefäden auf der Spur.
Wie schafft es die Spinne zuerst die Seideproteine in der Spinndrüse zu speichern und diese dann im Spinnkanal innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Fäden mit den hervorragenden Eigenschaften zusammenzusetzen? Und was verleiht dem Faden dann seine ungeheure Zugfestigkeit? Diesen Schlüsselfragen zur Herstellung künstlicher Spinnenseide sind die Wissenschaftler nun einen Schritt näher gekommen.
Spinnenfäden bestehen aus langen Ketten tausender sich wiederholender Sequenzen von Eiweißmolekülen. In der Spinndrüse lagern diese Seidenproteine zunächst in hoher Konzentration und warten auf ihren Einsatz. Die langen Ketten mit den Wiederholungseinheiten sind dabei ungeordnet. Sie dürfen sich hier nicht zu nahe kommen, da sonst die Eiweiße augenblicklich verklumpen würden. Erst im Spinnkanal, kurz vor der Verwendung, werden die Fäden parallel orientiert und bilden sogenannte Mikrokristallite, die sich wiederum durch Quervernetzungen zu festen Fäden zusammen setzen.
Im letzten Jahr hatten die Wissenschaftler um Kessler und Scheibel am Beispiel der gemeinen Gartenspinne („Kreuzspinne“) herausgefunden, wie der Übergang von einzelnen Spinnenseidemolekülen zum verbundenen Faden vor sich geht: Die einzelnen Spinnenseideproteine werden zunächst in der Spinndrüse in kleinen Tröpfchen, sogenannten Mizellen, gespeichert. Dabei lagern die Eiweißketten so, dass sich die beiden Enden der Kette außen und die Wasser abweisenden Teile der sich wiederholenden Sequenzen in der Mitte befinden. Auf diese Weise können die Proteine gut gelöst gespeichert werden, ohne dass sie sich zusammen lagern.
Die Wissenschaftler identifizierten dabei das Regulationselement, das im Spinnkanal für die Bildung des festen Fadens aus den einzelnen Teilen sorgt. Es handelt sich um die sogenannte C-terminale Domäne des Seidenproteins. Sie verhindert in der Spinndrüse bei höheren Salzkonzentrationen die Bildung des Fadens. Im Spinnkanal jedoch, bei niedriger Salzkonzentration und vor allem in Gegenwart von Scherkräften, wird diese Domäne instabil und „klebrig“. Dadurch lagern sich die Ketten zusammen und ein fester Spinnenseidefaden entsteht. Die Entdeckung der Bedeutung dieser im Verhältnis zur Gesamtlänge des Eiweißfadens relativ kleinen C-terminalen Domäne war damals eine Sensation und wurde im renommierten Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht.
Jetzt gelang es den gleichen Forschergruppen ein weiteres Teil im Puzzle der Spinnenseide aufzudecken. Sie zeigten, dass auch das andere Ende des langen Fadens, die sogenannte N-terminale Domäne, eine wichtige Rolle für die Konstruktion eines stabilen und reißfesten Fadens spielt. Diesmal untersuchten die Wissenschaftler Kopfstücke der Spinnenseideproteine der „schwarzen Witwe“ (Latrodectus hesperus). Das Ergebnis: Die N-terminalen Kopfstücke liegen in der Spinndrüse einzeln (als Monomere) vor, und lagern sich erst im Spinnkanal zu Kopf-Schwanz-Paaren (Dimere) zusammen.
Reguliert wird die Zusammenlagerung dabei durch die Veränderung des pH Wertes und der Salzkonzentration zwischen Spinndrüse und Spinnkanal. In der Spinndrüse verhindern ein neutraler pH Wert von 7,2 und eine hohe Salzkonzentration, dass sich die N-terminalen Kopfstücke verbinden. Im Spinnkanal jedoch wird die Umgebung saurer (pH Wert von etwa 6,2) und das Salz entfernt. Nun können sich die Enden zusammen lagern. Bei diesem Vorgang verknüpfen sich die jeweiligen N-terminalen Enden wiederum mit einem zweiten Ende – eine praktisch endlose Kette der zusammen gelagerten Spinnenseidenproteine entsteht. „In unserer Arbeit konnten wir zusätzlich zu früheren Arbeiten zeigen, dass sowohl der pH Wert, als auch die Salzkonzentration das Monomer-Dimer Gleichgewicht beeinflussen“, fasst Franz Hagn, Erstautor der Studie, die Ergebnisse zusammen. „Beide Faktoren beeinflussen die Bildung von Dimeren und dadurch die effiziente Vernetzung zu sehr langen Seidenproteinen.“
Diese Vernetzung schließlich verleiht dem Spinnenseidefaden seine enorme Festigkeit. Die kleinen Kristallite, die sich durch paralleles Zusammenlagern der Proteinketten nach dem kontrollierten Entfalten der C-terminalen Domäne zuerst gebildet haben, werden nun untereinander durch die N-terminale Domäne des Spinnenproteins noch zu einer sehr langen Kette verbunden. „Erst dieser Effekt erklärt die ungeheure Festigkeit des Seidenfadens der Spinne“, sagt Kessler. Eine derartig raffinierte Ausnutzung dieser als „Multivalenz“ bezeichneten Quervernetzung gibt es in künstlichen Polymeren bislang nicht. „Die meisten Polymerchemiker konzentrierten sich auf Länge des Fadens. Auf die Idee die Enden auch noch einmal quer zu vernetzen und dadurch praktisch unendliche Kettenlängen zu erhalten kam man bislang nicht“, meint Kessler. Die neuen Erkenntnisse könnten nun den Chemikern als Vorlage dienen, neue Materialien mit verbesserten Eigenschaften herzustellen.
Um die Struktur der Spinnenseide zu analysieren benutzen die Forscher die Methode der Kernmagnetischen Resonanz Spektroskopie (NMR). Hier werden die Teilstücke der Spinnenseide, unter Bedingungen, wie sie in den Organen der Spinne gefunden werden, gelöst und in einem sehr starken Magnetfeld mit Radiowellenimpulsen bestrahlt. Aus der „Antwort“ der Moleküle können die Wissenschaftler dann die genaue Struktur der Moleküle bestimmen. Mit dieser Methode können die Einflüsse der Umgebung (z.B. Salzkonzentration, pH-Wert) genau studiert und die natürlichen Verhältnisse simuliert werden. Die Entwicklung und Anwendung der NMR-Methodik auf Biomoleküle ist seit Jahren ein Schwerpunkt im Bayerischen NMR-Zentrum in Garching.
Quelle: Technische Universität München