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Die Macht der Nachahmung

Archivmeldung vom 06.05.2005

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 06.05.2005 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Michael Dahlke

Mit einem aus der Physik entnommenen Modell der Interaktion von Atomen haben Wissenschaftler die Verbreitung von Handys oder den Rückgang der Geburtenrate analysiert. Telepolis berichtet

Wenn man wüsste, warum und wie sich Moden, Konsumgewohnten, Ideen, Verhaltensweisen oder welche Vorlieben oder Abneigungen auch immer unter den Menschen verbreiten, wäre dies eine geniale Möglichkeit zur Manipulation. Mit Schrecken und Faszination ging diese Möglichkeit, siehe Platons Höhlengleichnis als erstes ausgearbeitetes "Modell", schon lange in den Köpfen umher. Aber auch nach vielen wissenschaftlichen Ansätzen und manchen Umsetzungen im Bereich von Werbung, PsyOp, Therapie oder Umerziehung ist man von einem bislang nur partiellen Verständnis nicht zur sicheren Methode gelangt, mit der sich ein solches Mem fabrizieren, in die Köpfe der Menschen injizieren und dann wie ein Epidemie verbreiten ließe.   

Zuletzt hatte die von Richard Dawkins inspirierte Memetik sich anheischig gemacht, die Verbreitung von Ideen, Verhaltensweisen oder Neigungen durch Nachahmung analog einer viralen Epidemie und der Evolutionen von Genen zu verstehen. Auf einen neuen Ansatz sind nun die Physiker Quentin Michard von der Ecole supérieure de physique et de chimie industrielles in Paris und Jean-Philippe Bouchaud vom Commissariat à l'énergie atomique in Saclay gestoßen, wie sie in Theory of collective opinion shifts: from smooth trends to abrupt swings schreiben. Ihr Ausgangspunkt gleicht dem Ansatz der Memetik, auf die aber nicht Bezug genommen wird. Ein Verhalten oder eine Einstellung breitet sich durch Nachahmung aus. Das setzt eine direkte oder mediale Wahrnehmung voraus, die dann so ansteckend oder beeindruckend ist, dass das Wahrgenommene übernommen oder zumindest der Wunsch nach etwas ausgelöst wird.

Da Bouchard sich mit wirtschaftlichem Verhalten beschäftigt hat, sieht er im Verbreitungs- oder Infektionsmechanismus der Nachahmung eine gegenseitige Beeinflussung etwa von wirtschaftlich handelnden Akteuren. In den meist spieltheoretischen Entscheidungsszenarien des homo oeconomicus werden kollektive Prozesse, beispielsweise die Abhängigkeit des Preises von der Nachfrage nach einem Produkt, oft so dargestellt, dass Entscheidungen von den individuellen Akteuren isoliert, weil in Abhängigkeit von bestimmten Präferenzen, getroffen werden. Es mag insgesamt aber nach vielen spieltheoretischen Simulationen oder der Theorien über nichtlineares, chaotisches, selbstorganisiertes oder emergentes Verhalten eher ein rhetorischer Kniff sein, wenn beide Autoren sagen, dass erst seit kurzem Interaktionen zwischen Agenten systematisch in der Ökonomie und Soziologie erforscht werden.

Will man "Trends, Moden oder Blasen", also plötzliche Veränderungen des Verhaltens oder der Meinung von Massen, untersuchen, dann ist sicher notwendig einzubeziehen, wie sich die gesellschaftlichen Akteure wechselseitig beeinflussen. Für die beiden Autoren sind Imitation (Lernen) und sozialer Druck dafür entscheidend, dass durch Kaskaden von Interaktionen ein neues Verhalten auf der Makroebene entsteht, wie dies beispielsweise auch bei Tierherden der Fall ist. Imitation ist "tief biologisch als ein Überlebensmechanismus" verankert. Man muss seine soziale Umgebung beobachten und nachahmen, um integriert zu bleiben und seinen Status zu erhalten bzw. zu verbessern, aber auch um Neues nicht zu verpassen, das wichtig sein könnte, weil es irgendeinen Vorteil mit sich bringen könnte.

In aller Regel verhält sich aber eine Gesellschaft nur selten wie eine riesige Herde, sondern zerfällt in zahllose Gruppen, die allerdings durch Medien auch über die Welt verstreut sein können. Andererseits können über Medien nun auch über globale Interaktionen, die sich schnell ausbreiten, globales Verhalten oder globale Erregungen entstehen, was bislang schlicht unmöglich war und manche Theoretiker über so etwas wie ein "globales Gehirn" nachdenken lässt, dessen "Neuronen" die einzelnen vernetzten Menschen darstellen. Auch in den biologischen Gehirnen wird durch Kaskaden von Interaktionen kollektives Verhalten erzeugt.

Solche kollektiven Mechanismen zu verstehen, sei von großer Wichtigkeit, betonen die beiden Wissenschaftler, da sie oft auch gefährlich sind. Sie könnten die Demokratie unterminieren, zu Panikverhalten oder – wie derzeit in Deutschland? – zu Wirtschaftskrisen führen. Aber sie seien auch deswegen interessant, weil man dann verstehen könne, wie sich neue Produkte oder Technologien durchsetzen.

Magnetisierung als Modell für kollektive Prozesse

Interaktion sei aber schon lange wichtig in der Physik, um Phänomene wie Magnetismus oder Superleitfähigkeit zu erklären. Und hier sei besonders das Ising-Modell interessant, mit dem in der Physik eine spontane Magnetisierung berechnet werden kann. Bei diesem Modell wird davon ausgegangen, dass Atome nur zwei diskrete magnetische Zustände (Spin) einnehmen können. Zudem wird davon ausgegangen, dass es irgendeine Form der Beziehung zwischen zwei benachbarten Atomen dergestalt gibt, dass sie der Tendenz folgen, einen gleichen Zustand anzunehmen. Das kann man als Nachahmung beschreiben. Aus der Gesamtheit dieser Interaktionen lässt sich der Phasenübergang, d.h. die Magnetisierung, erklären.

Dass das Ising-Modell nicht nur für ferromagnetische Substanzen gilt, sondern auch helfen könnte, kollektive Verhaltensweise zu verstehen, ist nicht die Entdeckung der beiden Wissenschaftler, sondern schon länger bekannt. Aber sie haben das Ising-Modell mit Erfolg auf drei Phänomene angewendet: auf den Rückgang der Geburtenrate ab den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, auf die schnelleVerbreitung der Handys in Europa in den 90er Jahren und auf den Prozess, durch den nach einem Konzert das Klatschen nachlässt und aufhört. Dabei stellte sich heraus, dass der soziale Druck bzw. der Zwang zur Nachahmung in verschiedenen Ländern unterschiedlich ist. Bei einem vierten Phänomen, der Verbrechensstatistik in US-Bundesstaaten von 1960 bis 2000, ergaben sich aus dem Ising-Modell jedoch keine signifikanten Erkenntnisse.

In ihrem Modell setzten sie Menschen mit Atomen gleich, die sich jeweils nur für zwei Zustände entscheiden können (Ja oder Nein, Kaufen oder Nicht-Kaufen, Klatschen oder Aufhören). Den Akteuren wurde jeweils eine Tendenz zugeschrieben, sich für einen Zustand zu entscheiden. Eine weitere Variable stellen öffentliche Informationen dar, die für alle zugänglich sind. Und als dritte Variable gilt der soziale Druck oder die Nachahmung, also wenn so und so viele Akteure in der "Nachbarschaft" eines Akteurs ein Produkt kaufen oder ein Verhalten ausüben, dann wird dies für ihn attraktiver und ab einer gewissen Schwelle wird etwas gekauft, was eben zu einem diskontinuierlich eintretenden Massenverhalten werden kann. Dieser Verstärkungseffekt, der durch die Nachahmung als Verbreitungsmechanismus eintritt, könnte natürlich auch in die entgegengesetzte Richtung gehen, also dass immer mehr Menschen beispielsweise etwas ablehnen, nicht mehr kaufen, nicht mehr glauben oder nicht mehr chic finden. Das könnte vielleicht wissenschaftlich fast noch interessanter sein, weil sich so vermutlich erst Neues durchsetzen kann. Aber es interessierte nach eigenem Bekunden die Wissenschaftler nicht so sehr, die offenbar eher auf Verkaufsstrategien ausgerichtet waren.

Konformität durch Nachahmung

Das Modell wurde auf die von Eurostat veröffentlichten Statistiken der Geburtenrate in europäischen Ländern zwischen 1950 und 2000 angewendet. In den meisten Ländern lässt sich ein kontinuierlich sich beschleunigender Geburtenrückgang mit einem Tiefpunkt um das Jahr 1970 herum verzeichnen. Aber es gibt auch Ausnahmen wie Portugal oder Griechenland, bei denen der Tiefpunkt später eintrat, oder wie Schweden, wo in den 80er Jahren die Geburtenrate wieder zugenommen hat. Nach den Berechnungen der Wissenschaftler spricht die nach dem Modell vorhersagbare Beschleunigung des Prozesses für einen sozialen Druck durch Nachahmung, während äußere Einflüsse wie die Verfügung der Pille nicht entscheidend gewesen seien.

Ähnliches hatte sich beim sprunghaften Anstieg der Verbreitung von Handys in europäischen Ländern zwischen 1994 und 2003 gezeigt. Handys seien zwar auch besser und billiger geworden, aber ein wichtiger Faktor sei auch hier der soziale Druck gewesen, etwa aus Statusgründen ein Handy haben zu müssen oder weil der Besitz eines Handys desto attraktiver wird, je mehr Menschen eines besitzen. Um 2000 war überall ein Peak zu bemerken, in Deutschland übrigens wieder wie beim Rückgang der Geburtenrate am ausgeprägtesten, weswegen es sich als das "kollektivste" Land erwiesen habe. Das wäre, sollte dies tatsächlich verallgemeinerbar sein, kein gutes Zeichen.

Am besten beobachten lässt sich zweifellos das kollektive Phänomen des Klatschens. Jeder weiß aus Erfahrung, wie ansteckend sowohl der Beginn als auch das Anschwellen durch Synchronisieren der klatschenden Menge, die sich über den Rhythmus selbst entdeckt und verstärkt, und das Nachlassen mit einem plötzlichen Ende ist. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass je nach der Begeisterung, die beispielsweise ein Konzert bei den Zuhörern ausgelöst hat, das Klatschen individuell länger oder kürzer sein wird. Gleichzeitig aber wird der Einzelne vom Verhalten der Menge beeinflusst. Aufgrund der Analyse des aufgezeichneten Verhaltens von jeweils 1.000 Besuchern zweier Konzerte, die 11 Mal klatschten, ergaben sich stets typische Kurven, wobei die Umschwünge zur Beendigung des Klatschens in machen Fällen ganz abrupt erfolgten. Das spricht für eine starke Wechselwirkung durch Nachahmung. Auch hier waren die Daten mit den Vorhersagen des Modells und mit der Veränderungsgeschwindigkeit bei den beiden anderen Fällen vereinbar.

Man könne mit ihrem Ansatz, so die beiden Wissenschaftler, viele weitere soziale Phänomene untersuchen: die Verbreitung von Produkten und Technologien, aber auch Scheidungsraten, Häufung von Autounfälle, die Entwicklung von Meinungsumfragen oder die Ausbreitung von Unruhen. Allerdings ließe sich mit diesem Ansatz bestenfalls belegen, dass sich bestimmte Massenphänomene vermutlich aufgrund von Nachahmung ergeben. Der Erklärung entzieht sich allerdings, warum eine solche Ansteckung in dem einen Fall ausgelöst wird und in einem anderen Fall nicht, weswegen der Ansatz auch keine Möglichkeiten anbietet, derartige memetische Verbreitungsmechanismen zu starten oder gezielt zu beeinflussen.

Die Wissenschaftler hegen dennoch die Hoffnung, mit weiterer Forschung solche sich aufschaukelnden Massenphänomene nicht nur besser verstehen, sondern auch manipulieren zu können. Zumindest könnte sich aus dem Wissen solcher selbstbezüglicher Dynamiken eine Veränderung der öffentlichen Meinung ergeben, sagen sie. Das Wissen würde selbst zu einer Information, die den Prozess beeinflusst, weil die verstärkenden Rückkopplungsschleifen, die durch Nachahmung abrupte "Meinungsumschwünge, Börsencrashs oder Wirtschaftskrisen" bewirken, verhindert oder zumindest gedämpft werden könnten. Das aber scheint entweder ein frommer Glaube an die Aufklärung zu sein oder aber ein Versprechen, um Forschungsgelder zu erhalten.

Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20039/1.html


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