Ungewöhnliche Zellkerne lassen Nachttiere besser sehen
Archivmeldung vom 20.04.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAugen nachtaktiver Säugetiere verfügen über besonders viele hochempfindliche Stäbchen-Fotorezeptoren. Das ist der für das Nachtsehen zuständige Sehzelltyp. Schließlich müssen sie Licht wahrnehmen, dessen Intensität millionenfach unter der des Tageslichts liegt.
Ein internationales Team um die LMU-Forscher Dr. Boris Joffe, Dr. Irina
Solovei und Professor Thomas Cremer konnte nun zeigen, dass sich der
nächtliche Lebensstil und die damit verbundenen Herausforderungen
dauerhaft auf die Organisation der Zellkerne in den Stäbchen ausgewirkt
haben: Dicht gepackte inaktive und weniger dicht gepackte aktive
Bereiche des Erbmoleküls DNA sind anders verteilt als bei den übrigen
Körperzellen fast aller Organismen vom Einzeller bis zum Vielzeller -
einschließlich der Stäbchen tagaktiver Säuger. "Es gibt auch eine
Erklärung für diese Abweichung", sagt Joffe. "Die Zellkerne der
nachtaktiven Säuger fungieren in dieser speziellen Anordnung als
Sammellinsen, die das eintreffende Licht bündeln. Computersimulationen
zeigen, dass mehrere solcher Zellkerne übereinander das Licht sehr
effektiv zu den lichtsensitiven Außensegmenten der Stäbchen lenken. Die
veränderte Organisation der Stäbchen-Zellkerne verbessert also das
nächtliche Sehen der Tiere - und liefert neue Erkenntnisse zur
Evolution der Retina bei Säugetieren und zum Verständnis der räumlichen
Organisation des Zellkerns." (Cell, 17. April 2009)
Zellkerne als Verpackungskünstler: Das Erbmolekül DNA einer diploiden
Säugerzelle ist zwei Meter lang, muss aber in den nur wenige Mikrometer
großen Zellkern passen. Die fadenförmigen Moleküle des Erbmaterials
sind mit Proteinen als sogenanntes Chromatin verpackt. Dabei sind
DNA-Abschnitte, deren genetische Information gerade benötigt wird,
weniger eng gepackt und besser zugänglich. Dieses sogenannte
Euchromatin befindet sich typischerweise in inneren Bereichen des
Zellkerns. Ein erheblicher Teil des Heterochromatins mit den "nicht
benötigten" DNA-Bereichen liegt dagegen an der Peripherie des
Zellkerns. Diese Art der Organisation hat sich im Lauf der letzten 500
Millionen Jahre bei fast ausnahmslos allen höheren Organismen etabliert.
"Diese Anordnung ist so universell, dass man von der 'konventionellen
Architektur' des Zellkerns sprechen kann", meint Dr. Boris Joffe vom
Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. "Umso
überraschender ist die jetzige Erkenntnis, dass es doch prinzipielle
Unterschiede bei der Anordnung gibt - und dass diese von der
Lebensweise abhängen." Ein interdisziplinäres Team von Forschern der
LMU, des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und des
Cavendish Laboratory in Cambridge konnte zeigen, dass bei nachtaktiven
Säugetieren die Anordnung des Chromatins in den Stäbchenkernen genau
umgekehrt ist: Das dicht gepackte Heterochromatin befindet sich im
Zellkern-Inneren, während das weniger dicht gepackte Euchromatin mit
den aktiven DNA-Bereichen an der Peripherie liegt.
Die Erklärung für die ungewöhnliche Architektur dieser Zellkerne liegt
in der Biologie der Sinneswahrnehmung. Beim Menschen und bei allen
anderen Wirbeltieren muss das Licht erst die Netzhaut, die Retina,
durchdringen, um auf die lichtempfindlichen äußeren Teile der
Fotorezeptoren zu stoßen. Und hier stehen die nachtaktiven Tiere vor
einem Dilemma: Sie brauchen besonders viele Stäbchen zur Detektion des
schwachen Lichts, wodurch aber ihre Retina dicker wird und mehr Licht
durch Streuung verliert, bevor es die Außensegmente der Fotorezeptoren
erreicht. Zur Lösung des Problems machte sich die Evolution eine
physikalische Besonderheit des dicht gepackten Heterochromatins
zunutze.
Wegen seiner höheren Packungsdichte wirkt Heterochromatin stärker
lichtbrechend als Euchromatin. Dieser Effekt kommt nicht zum Tragen,
wenn das Heterochromatin in der Peripherie des Zellkerns liegt. Wenn es
sich dagegen im Inneren des Zellkerns zusammenballt, wirkt das
Heterochromatin wie eine winzige Sammellinse. Weil die Stäbchenkerne in
Säulen angeordnet sind, kommen mehrere dieser Mikrolinsen übereinander
zu liegen. Das an sich wenig intensive Licht wird so - das zeigen
Computersimulationen - fast ohne Streuverluste gebündelt und durch die
Retina geleitet, es trifft fokussierter auf die lichtempfindlichen
Außensegmente der Fotorezeptoren.
Die ungewöhnliche Architektur der Stäbchen-Zellkerne liefert zudem neue
Erkenntnisse zur frühen Evolution der Säugetiere. Denn die besondere
Anordnung des genetischen Materials muss schon vor mehr als hundert
Millionen Jahren erstmals aufgetreten sein. Zu dieser Zeit haben sich
die Vorfahren der heutigen Säugetiere an ein nachtaktives Leben
angepasst, um den damals dominanten fleischfressenden Reptilien zu
entgehen. Während die nachtaktiven Nachfahren die invertierte
Architektur der Stäbchenkerne beibehalten haben, kehrten später
tagaktiv gewordene Nachfahren - auch wir Menschen - zur konventionellen
Organisation zurück.
"Das bestätigt uns die Überlegenheit der konventionellen
Kernarchitektur", so Joffe. "Die von uns gefundene invertierte
Zellkernorganisation bringt offensichtlich noch unbekannte Nachteile
mit sich. Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass die
konventionelle Architektur es für Chromosomen leichter macht, die
aktiven Kernbereiche gemeinsam zu nutzen. Aber bei den nachtaktiven
Säugetieren scheint der Vorteil verbesserter Nachtsicht überwogen zu
haben" (suwe)
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft e.V.