Dialekte sind nicht totzukriegen
Archivmeldung vom 03.01.2009
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Freigeschaltet durch Oliver RandakBayerisch, Hessisch oder Schwäbisch - Experten akzeptieren längst nicht mehr nur Hochdeutsch als «richtige» Variante. Die großen regionalen Unterschiede haben zudem einen Vorteil: Die Polizei kann Erpresseranrufe gut zuordnen.
Der Leipziger Kabarettist Bernd-Lutz Lange hat sogar ein
deutsch-sächsisches Wörterbuch herausgegeben. «Machense geene Fissemaddenzchn»
etwa, so das Beispiel im Untertitel, versteht nicht jeder außerhalb des
ostdeutschen Freistaates ohne weiteres als «Machen Sie keine Schwierigkeiten».
Denn auch wenn die CDU Anfang Dezember ausgerechnet in Stuttgart forderte,
Deutsch als Landessprache ins Grundgesetz aufzunehmen - ein einheitliches Idiom
gibt es in Deutschland nicht.
In kaum einer anderen Sprache gibt es so große
regionale Unterschiede wie in der hiesigen. Das betrifft nicht nur die
Aussprache, sondern auch die Grammatik. Wissenschaftler unterteilen die
Bundesrepublik grob in 16 Dialektlandschaften. Bei Berücksichtigung feinerer
Unterschiede kommen sie sogar auf mehrere tausend Sprachvarianten.
«Deutsch ist ein Sammelsurium verschiedener
Varianten, die aber einen gemeinsamen Ursprung haben», sagt der stellvertretende
Leiter des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas, Joachim Herrgen. Das
Institut der Universität Marburg hat sich der Erforschung der Regionaldialekte
verschrieben. Längst schon akzeptieren die Experten nicht nur Hochdeutsch als
die einzig richtige Sprache. «Auch mit Dialekten kann man sich adäquat
ausdrücken», erklärt Herrgen. «Das Deutsch im Oberammergau ist eben ein anderes
als auf Rügen.» Noch vor 40 Jahren herrschte dagegen in Forscherkreisen die
Auffassung, nur in der Hochsprache könne man auch wissenschaftlich sprechen und
denken.
Auch im Zeitalter omnipräsenter Tonmedien und raumgreifender Anglizismen halten sich die regionalen Ausdrucksweisen überraschend hartnäckig. «Die Dialekte verändern sich zwar, aber sie sterben bei weitem nicht so schnell ab, wie man früher gedacht hat», berichtet Herrgen mit pfälzischem Einschlag in der Stimme.
Allerdings haben die Wissenschaftler eine Entwicklung vom lokalen zum regionalen Dialekt registriert. Die sprachlichen Unterschiede zwischen einzelnen Ortschaften gleichen sich langsam an. «Früher konnte man häufig hören, aus welchem Dorf ein Sprecher kam», sagt der Wissenschaftler. «Heute erkennt man meist nur, ob er Bayer, Hesse oder Allemanne ist.» Die Sprachforscher haben beobachtet, dass sich selbst Jugendliche in Internet-Chatrooms regionaltypischer Worte bedienen.
Und nicht nur die Hochsprache, auch ihre Varianten entwickeln sich ständig weiter. So haben die Gemeinschaften türkischer Immigranten in den deutschen Großstädten ganz eigene Ausdrucksweisen - mit neuen Wortkreationen und oft vom Duden abweichenden Grammatikregeln. «Ob sich das verfestigt, wird erst die Zukunft zeigen», erläutert Herrgen. «Derzeit sieht es aber ein wenig danach aus.» Aber auch dialektübergreifend beobachten die Sprachwissenschaftler Veränderungen.
Als Beispiel nennt Herrgen das «ch», dessen Aussprache als «sch» sich im mittleren deutschen Sprachraum von Ost bis West immer weiter ausbreite. «Da entsteht Dialektalität neu», freut sich der Wissenschaftler. Die Entwicklung habe in den Großstädten begonnen, wegen der dort herrschenden größeren Liberalität, der Mischung sozialer Schichten und der Zuwanderung Ortsfremder.
Andererseits hat sich mit Ausbreitung von Radio und Fernsehen auch die Sprachwahrnehmung stark verändert. Die im Rheinland heute als «Adenauerdeutsch» bekannte Aussprache des ersten Bundeskanzlers galt vielen Zeitgenossen genau so als Hochdeutsch wie das abgemilderte Schwäbisch des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Mittlerweile gelten andere Normen. «Aber vor 50 oder 80 Jahren hatten viele Menschen das eigentliche Hochdeutsch gar nicht im Ohr, weil sie nie damit in Kontakt kamen», sagt Herrgen.
Am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas untersuchen Herrgen und seine Kollegen die Veränderungen der Dialekte. In den kommenden 18 Jahren soll ein neuer Atlas deutscher Dialekte entstehen. Unter anderem belauschen die Forscher dazu Polizisten in 150 Orten bei der telefonischen Notrufannahme. «Dort gibt es eine feststehende Situation, die sich gut vergleichen lässt», erklärt der Forscher.
Einen praktisch Nutzen hatte die Untersuchung bereits. Für das Bundeskriminalamt haben die Wissenschaftler eine Dialekt-Datenbank erstellt. Damit soll die Herkunft von Erpresseranrufern leichter ermittelt werden können. «Wir hatten schon erste Erfolge», berichtet Herrgen. Ein anderes Anwendungsgebiet sei die Weiterentwicklung akustischer Sprachverarbeitung von Computern. Damit künftig ein Navigationsgerät auch seinen sächsischen Nutzer verstehen kann, wenn der etwa nach «Göln» will.