Standardmodell der Physik experimentell bestätigt
Archivmeldung vom 22.04.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 22.04.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn Physiker vom "Standardmodell" sprechen, meinen sie ihr Bild von der Welt der kleinsten Teilchen und der Kräfte zwischen ihnen. Es beschreibt unter anderem exotische Materie, die sich in Antimaterie und zurück verwandeln kann. Zu den Teilchen mit dieser Fähigkeit gehört das Bs-Meson.
Forscher am Fermilab-Teilchenbeschleuniger nahe Chicago konnten das
Standardmodell jetzt experimentell bestätigen, indem sie zum ersten Mal direkt
und sehr präzise gemessen haben, wie oft pro Sekunde sich Bs-Mesonen umwandeln.
Als einzige deutsche Hochschule war die Universität Karlsruhe maßgeblich an
diesem Meilenstein der Teilchenphysik beteiligt. Ein 20-köpfiges Forscherteam um
die Physikprofessoren Dr. Thomas Müller und Dr. Michael Feindt hat komplexe
Software geliefert, die eine gezielte Auswertung der Rohdaten überhaupt erst
ermöglicht hat. Das Team gehört zu der Kollaboration "Collider Detector at
Fermilab" (CDF), an der etwa 700 Physiker von 60 Institutionen aus aller Welt
beteiligt sind.
Im Fermilab, dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger
der Welt, werden Protonen und Antiprotonen bis beinahe zur Lichtgeschwindigkeit
beschleunigt und aufeinander geschossen. Die dabei neben vielen anderen Teilchen
entstehenden Bs-Mesonen wandeln sich pro Sekunde 2,8 Billionen Mal in
Anti-Bs-Mesonen um und zurück, also jede Sekunde etwa 500-mal öfter als Menschen
auf der Erde leben. "Dieser Wert liegt im Bereich, den das Standardmodell
vorhersagt", sagt Müller. Bs-Mesonen existieren im heutigen Kosmos nicht mehr,
waren aber im jungen Universum kurz nach dem Urknall vorhanden. Physiker können
sie nur in großen Teilchenbeschleunigern untersuchen. Sie wollen so nicht nur
Erkenntnisse über die Eigenschaften der Elementarteilchen, sondern auch über die
Entwicklung des frühen Universums gewinnen.
"Seit 1986 warten wir auf
diese Messung", sagt Müller. Es sei einer der seltenen Durchbrüche in der
Elementarteilchenphysik. Dabei haben viele der Physiker ein ganz anderes
Ergebnis erhofft. Müller: "Wir wissen, dass das Standardmodell unvollständig
sein muss." Unter extremen Bedingungen, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht
haben, sei es nicht gültig. Das Standardmodell müsse der Grenzfall einer
allgemeineren Theorie sein. Müller vergleicht dieses Verhältnis mit dem zwischen
der Mechanik Isaac Newtons und Einsteins Relativitätstheorie. Erstere beschreibt
die Bewegung von Dingen in unserer Alltagswelt bis hin zur Planetenbewegung. Für
Geschwindigkeiten nahe der des Lichtes verliert sie jedoch ihre Gültigkeit und
muss durch die allgemeiner gültige Relativitätstheorie ersetzt werden. Das
Standardmodell hat weitere Unzulänglichkeiten: "Es kann nicht erklären, warum im
Universum nur Materie und keine Antimaterie beobachtet wird", sagt Feindt, der
maßgeblich an der Entwicklung der Karlsruher Spezialsoftware mitwirkte. Jede
Proton-Antiproton-Kollision kann mit einem "Mini-Urknall" verglichen werden. Es
entsteht eine hohe Zahl neuer Teilchen, die mit dem 700 Tonnen schweren
CDF-Detektor nachgewiesen werden. Indem sie die Kollisionen mit
Präzisionsmessungen beobachten, hoffen Physiker, über die Grenzen des
Standardmodells hinauszublicken, um ein tieferes Verständnis der Natur der
kleinsten Teilchen und der Evolution des Universums zu gewinnen.
Seit
1995 arbeitete das Karlsruher Team an Software, die aus dem Gewirr
elektronischer Teilchenspuren im CDF-Detektor rekonstruieren kann, ob ein
Bs-Meson bei seiner Entstehung Teilchen oder Antiteilchen war. Dieses so
genannte Tagging basiert auf komplexen statistischen Verfahren. Zusammen mit der
Lebensdauer des Bs-Mesons, die im Bereich einer Millionstel Sekunde liegt, und
der relativ einfach zu gewinnenden Information, ob es bei seinem Zerfall
Teilchen oder Antiteilchen war, kann auf die Anzahl der Umwandlungen pro Sekunde
geschlossen werden. Zum ersten Mal kam für das Tagging unter anderem das in
Karlsruhe entwickelte neuronale Netzwerk "NeuroBayes" zum Einsatz. Neuronale
Netze können versteckte Zusammenhänge in umfangreichen Datenmengen aufspüren.
NeuroBayes wird auch in der Wirtschaft eingesetzt, zum Beispiel zur Analyse von
Versicherungsdaten. Maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat außerdem die Software
"Same-Side-Kaon Tagging" der am Massachusetts Institute of Technology (MIT)
forschenden Emmy-Noether-Stipendiatin Stephanie Menzemer, die an der Universität
Karlsruhe promovierte.
Zwischen Februar 2002 und Januar 2006 kollidierten
im Fermilab hunderte von Billionen Protonen mit Antiprotonen. Die Daten wurden
auf großen Computer-Netzwerken und zum Teil auf dem World-Wide-Grid, einem
weltweiten Zusammenschluss von Rechenzentren, ausgewertet. Die Physiker konnten
so den Lebensweg von etwa 3700 Bs-Mesonen vollständig rekonstruieren. Die
Rekonstruktion von weiteren etwa 53 000 Bs-Mesonen gelang wegen der Beteiligung
von nicht nachweisbaren Neutrinos an der Reaktion teilweise. Diese Datenbasis
bildet ein starkes statistisches Fundament für die Auswertung. Die
Wahrscheinlichkeit, dass die gemessene Umwandlungsrate von einer statistischen
Fluktuation herrührt, beträgt nur 0,5 Prozent. Um jedoch jeden Zweifel
auszuschließen, werden weitere Daten aufgenommen und die Rekonstruktionsmethoden
weiter entwickelt.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.