Zahlensinn ergibt sich spontan aus der Erkennung sichtbarer Objekte
Archivmeldung vom 11.05.2019
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtWissenschaftler der Universität Tübingen nutzen künstliche neuronale Netze als Hirnmodell des Sehsystems
Menschen und Tiere haben einen „Zahlensinn“, eine angeborene Fähigkeit, die Anzahl sichtbarer Objekte in ihrem Blickfeld intuitiv zu erfassen. Als neuronale Grundlage dieser Fähigkeit gelten sogenannte Zahlenneurone, die bevorzugt auf bestimmte Anzahlen antworten und im Gehirn von Mensch und Tier nachgewiesen wurden. Ob und wie sich solche Zahlenneurone allein durch die Sehfähigkeit im Gehirn herausbilden können, war bislang unbekannt. Wie der Zahlensinn entsteht, hat ein Forscherteam unter der Leitung von Professor Andreas Nieder vom Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen anhand eines künstlichen neuronalen Netzes untersucht. Den Ergebnissen zufolge geht er spontan und ohne Zählübung aus dem Sehsystem hervor. Die Studie wird in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Die Forscher trainierten zunächst ein künstliches neuronales Netz, ein sogenanntes ‚deep learning’-Netzwerk, Objekte wie Tennisbälle, Halsschmuck, Spinnen oder Hunde auf Fotos zu erkennen. „Das Netzwerkmodell beruhte auf einem System, das in seiner Architektur dem frühen Entwicklungszustand der menschlichen Sehhirnrinde nachempfunden ist“, erklärt Andreas Nieder. „Dort hatte man entdeckt, wie Nervenzellen in verschiedenen Hierarchieebenen beim Sehen zusammenarbeiten.“ Das künstliche Netz trainierte die Objekterkennung anhand von 1,2 Millionen Bildern, die in tausend Kategorien klassifiziert wurden. Nach dem Training konnte das Netzwerk Tausende von neuen Bildern mit hoher Trefferquote richtig klassifizieren.
Rückgriff auf bestehende neuronale Netzwerke
Gegliedert ist das Netzwerk in zwei Teile: Der eine extrahiert aus den Bildern die Merkmale des gezeigten Objekts und verwandelt diese in eine abstrakte Repräsentation; der zweite Teil ordnet die Objekte anhand der Repräsentation mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einer Kategorie zu. „Die beiden Netzwerkteile haben wir voneinander getrennt und präsentierten nun dem ersten Teil statt Fotos von Objekten einfache Punktmuster mit ein bis 30 Punkten“, sagt Nieder. In folgenden Durchläufen wurden die Muster mit unterschiedlicher Punktform und -dichte in Variationen wieder-holt. Die Forscher analysierten nun, ob die künstlichen Neurone des Netzwerks unabhängig von sonstigen Merkmalen auf die jeweils gleiche Anzahl der dargestellten Punkte reagierten. „Fast zehn Prozent der künstlichen Neurone hatten sich auf jeweils eine bestimmte Anzahl spezialisiert, obwohl das Netzwerk nie auf die Unterscheidung von Anzahlen trainiert wurde. Das Netzwerk hatte sozu-sagen spontan einen Zahlensinn entwickelt“, beschreibt der Wissenschaftler das Ergebnis.
Wissenschaftler hätten bereits zuvor vermutet, dass sich die Zählfähigkeit aus dem Sehsystem entwickelt. Grundsätzlich sei das Sehsystem mit der Erkennung sichtbarer Objekte beschäftigt. Die neue Studie zeige nun auf, wie sich aus einem künstlichen Sehsystem, das nur auf die Erkennung sichtbarer Objekte trainiert war, spontan Neurone des Zahlensinns entwickeln können. Diese ähnelten zudem in ihrem Funktionsverhalten echten Zahlenneuronen bei Tier und Mensch. „Der Zahlensinn scheint also nicht von einem bestimmten spezialisierten Hirnbereich abzuhängen, sondern greift auf neuronale Netzwerke zurück, die sich durch das Sehen gebildet haben. Dadurch lässt sich nun erklären, warum auch schon Neugeborene oder untrainierte Wildtiere einen Zahlensinn besitzen“, sagt Nieder.
Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen (idw)