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Kassen machen Jagd auf chronisch Kranke

Archivmeldung vom 27.01.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.01.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Oliver Randak

Früher jagten sich die Krankenkassen gegenseitig die jungen, gesunden Versicherten ab. Seit der Einführung des Gesundheitsfonds' wendet sich das Blatt. Angeschlagene Kunden sind so lukrativ wie nie – wenn die Diagnose stimmt.

Helmut Anderten war empört. Die AOK Niedersachsen wandte sich mit einer ungewöhnlichen Bitte an den Allgemeinarzt aus Hildesheim: Die Krankenkasse forderte ihn auf, eine Reihe seiner Patientendiagnosen noch einmal zu überprüfen, und bot im Gegenzug Geld - zehn Euro pro kontrollierter Krankenakte. «Plump» fand Anderten das. «Da war dieses Geschmäckle dabei: Für 'nen Zehner macht der Doktor am Tresen eine neue Diagnose.»

Anderten wies die Kasse schroff zurück und warnte seine Kollegen in einem Rundschreiben vor den Avancen. Der Fall kochte hoch. Auch anderswo klagten Mediziner über Kassen-Anfragen. Inzwischen streitet das gesamte Gesundheitssystem über mögliche Bestechung in deutschen Praxen. Die Schuld sehen Ärzte, Kassen und Verbände jeweils beim anderen - und beim Gesundheitsfonds.

Seit dem Start des Fonds zum Jahresbeginn gilt für die Kassen: Je älter und kränker ein Versicherter, desto mehr Geld erhalten sie für ihn. Für 80 ausgewählte Krankheiten - chronische und kostspielige - bekommen sie besondere Zuschläge. Zur Einordnung müssen Ärzte bei jeder Diagnose einen genauen Code angeben.

Der AOK Bundesverband klagt, diese Codes seien oft nicht korrekt. In extremen Fällen gingen einer Kasse dadurch Tausende Euro pro Patient verloren, sagt Sprecher Udo Barske und findet: «Das ist nicht verantwortbar.» Vorwürfe, es gehe bei Aktionen wie in Hildesheim um Korruption, kann er nicht nachvollziehen. «Wir wollen nur erreichen, dass ordentlich gearbeitet wird», betont Barske. Es gehe allein um die «richtige» Codierung.

Nach dem Aufruhr bei Anderten und seinen Kollegen holte sich die AOK in Niedersachsen die Kassenärztliche Vereinigung (KV) an ihre Seite. Beide verschicken nun gemeinsam Briefe an die Arztpraxen im Land. Das Anliegen ist geblieben - und die Zehn-Euro-Offerte auch.

Anderten ist besänftigt. Mit der zwischengeschalteten KV sei das Ganze zumindest formal korrekt, meint er. Viele sehen das anders. Medizinerverbände und auch das Bundesgesundheitsministerium überschlagen sich mit Warnungen vor Korruption und Manipulation.

Auch beim Ärzteverband NAV-Virchow-Bund melden sich immer wieder entrüstete Mediziner. Zuletzt schickte eine Psychiaterin aus Niedersachsen das Schreiben von AOK und KV an den Verband und fragte um Rat. «Lasse mich nicht kaufen!» hatte sie neben die Passage mit dem Zehn-Euro-Angebot gekritzelt. Auf den ersten Blick seien die Briefe rechtlich einwandfrei, sagt Verbandssprecher Klaus Greppmeir, «aber die Absicht dahinter ist, Patienten kränker zu schreiben, als sie sind.»

Die KV Niedersachsen wehrt sich vehement gegen solche Vorwürfe. «Es wird kein Gesunder zu einem Kranken gemacht», sagt Sprecher Detlef Haffke. Die zehn Euro bekomme ein Arzt auch, wenn es bei der alten Diagnose bleibe. Das Geld sei nur eine Entschädigung für den Arbeitsaufwand.

Die AOK ist nicht die einzige Kasse, die wegen Codierungen auf Ärzte zugeht. Auch die BKK beteiligt sich nach eigenen Angaben an solchen Aktionen. Geld werde jedoch nicht gezahlt.

Andere Kassen beäugen die Aktivitäten der Konkurrenz indessen mit großem Ärger. AOK und BKK sind in den Ländern organisiert und stehen unter der Aufsicht der Landessozialministerien. Für die großen bundesweiten Kassen wie Barmer oder Techniker Krankenkasse (TK) ist dagegen das Bundesversicherungsamt zuständig. Von dort kommt eine klare Ansage: dass Kassen außerplanmäßig Diagnosen überprüfen, um die Informationen für die Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds zu nutzen, hält die Behörde für unzulässig. In den Ländern gibt es diese Vorgabe nicht.

Barmer und TK fühlen sich ungerecht behandelt. Sie halten sich an die Vorgabe von oben, lehnen Aktionen wie die der AOK ab - und fordern gleiche Regeln für alle. Wenn sich die Praxis durchsetze, müsse sonst auch ihre Kasse irgendwann auf Ärzte zugehen, sagt TK-Sprecherin Dorothee Meusch. Schuld sei vor allem der Gesundheitsfonds, «weil er die Anreize setzt, Krankheit zu dokumentieren und nicht, sich um Kranke zu kümmern». Das sieht auch die KV Niedersachsen so - bei allen sonstigen Differenzen. Haffke sagt, schon vor der Fonds-Einführung sei absehbar gewesen, «dass die Kassen Jagd auf Kranke machen würden».

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