Das Orakel von Athen, Kommentar von Bernd Weber zur Pressekonferenz von EZB-Präsident Jean-Claude Trichet
Archivmeldung vom 04.11.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWer bisher auf eine Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Dezember gesetzt hat, wird sich durch die neuesten Aussagen von EZB-Präsident Jean-Claude Trichet ebenso bestätigt sehen wie jener, der mit einem solchen Schritt erst später rechnet.
Denn Trichet hat gestern deutlich gemacht, dass sich die Arbeitshypothesen von Athen, wo der EZB-Rat vor rund vier Wochen zu seinem routinemäßigen Auswärtsspiel auftrat, in der Zwischenzeit bestätigt haben.
Seinerzeit hatte die EZB die Kommunikation geändert
und schärfere Worte gewählt, indem von „noch“ angemessenen Leitzinsen
und einer „starken“ Wachsamkeit der EZB gegenüber Inflationstendenzen
gesprochen wurde. Worte, die von Trichet nach der gestrigen
EZB-Ratssitzung in Frankfurt wiederholt wurden.
Dass der Euro in Reaktion auf die EZB-Aussagen zunächst etwa um
ein halbes Prozent nachgab, sollte nicht überbewertet werden. Die
Spekulationen, dass Trichet die Märkte auf eine Zinserhöhung im
Dezember vorbereitet, erfüllten sich am Donnerstag nicht. Aussagen,
dass das Zinsniveau unangemessen sei, dürfen von einer Zentralbank
aber auch nicht erwartet werden. Denn damit würde sie eingestehen,
dass sie hinter die Kurve zurückgefallen ist, und die Glaubwürdigkeit
würde angegriffen.
Sicher ist, dass weder die monetären noch die
gesamtwirtschaftlichen Signale seit Athen dazu angetan sind, einen
möglichen Zinsschritt weiter hinauszuzögern. Die Preis- und
Geldmengenentwicklung ebenso wie die konjunkturellen Frühindikatoren
bewegen sich in eine Richtung, und die heißt: höhere Leitzinsen in
Euroland. Nicht umsonst weist Trichet inzwischen fast
gebetsmühlenartig darauf hin, dass die Zentralbank zu jeder Zeit
handeln könne, und beschreibt gleichzeitig die aktuelle Geldpolitik
als „sehr expansiv“.
Schärfer kann die Rhetorik der EZB nicht mehr werden.
Sollten die
konjunkturellen und monetären Kennzahlen sowie die
Inflationskennzahlen der kommenden Wochen das in Athen veränderte
Szenario untermauern und sollten sich tatsächlich Zweitrundeneffekte
manifestieren, werden die Zinsen angehoben. Den zur nächsten EZB-
Ratssitzung am 1. Dezember vorliegenden neuen Wachstums- und
Inflationsprojektionen kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu.
Dann würde aus dem bellenden ein beißender Hund.
Quelle: Pressemitteilung Börsen-Zeitung