''Ein Telegramm für Sie''
Archivmeldung vom 09.08.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakIm Alltagsgebrauch nur noch unter Diplomaten: Die Post hat das alte Medium fast aussterben lassen. Jetzt zieht ein Wettbewerber den Markt neu auf.
Walter Kohl, Sohn von Altkanzler Helmut Kohl, äußerte dieser Tage sein
Befremden darüber, dass er und sein Bruder nicht zur Hochzeit des
Vaters eingeladen waren. Erst danach sei er „über den Vollzug durch ein
Drei-Zeilen-Telegramm informiert“ worden, wie er der Illustrierten
„Bunte“ sagte. Helmut Kohl hatte im Mai in einer Rehabilitationsklinik
die 34 Jahre jüngere Regierungsdirektorin Maike Richter geheiratet.
Doch neben dem Umgang mit den Söhnen erstaunt auch die Wahl des
Mediums. Telegramm? Das klingt in Zeiten von E-Mail und SMS ziemlich
gestrig. Dabei war das Telegramm in den 16 Regierungsjahren Kohls –
1998 wurde er abgewählt – praktisch die einzige Form, eine Nachricht
schriftlich, schnell und stilvoll zu übermitteln. Mit Abstrichen galt
das sogar bis 2003: Seitdem stellt die Deutsche Post Telegramme nicht
mehr – wie seit Jahrzehnten – binnen Stunden zu, sondern erst am
nächsten Tag. Und wenn der Bote den Empfänger nicht persönlich
antrifft, landet das Telegramm ganz normal im Briefkasten, wie ein
Post-Sprecher in Bonn erklärt.
Der Konzern hat das Nischengeschäft stiefmütterlich behandelt; 2003 gab
der Konzern die letzte Pressemitteilung zu dem Thema heraus. Jetzt aber
drängt erstmals ein größerer Wettbewerber auf den Markt: Anfang Juli
startete das Unternehmen Unitel Telegram Services (UTS) mit Sitz in Zug
in der Schweiz einen Pilotversuch, um das Medium neu zu beleben: UTS
knüpfte ein Netz von rund 500 Zustellern, die die Telegramme innerhalb
von zwei bis vier Stunden persönlich zustellen sollen. „Das klappte.
Also haben wir uns entscheiden, den Service jetzt regulär anzubieten“,
sagte UTS-Sprecher Rob van Hoof dem Tagesspiegel. „Bei der Post spielt
das Telegramm ja praktisch keine Rolle mehr. Wir freuen uns dagegen
täglich über mehr Kunden und treten jetzt auch im Inland als direkter
Konkurrent auf.“
2001 hatte UTS bereits den Auslandstelegrammdienst von der Deutschen
Telekom übernommen und betreibt heute die einst staatlichen
Telegrammdienste in 43 Ländern, darunter in den Niederlanden, der
Schweiz, Österreich, Großbritannien, Schweden, Polen, Hongkong und
Singapur.
Genau wie die Post mag auch der UTS-Sprecher keine detaillierten Zahlen
nennen, nennt die Zahl der täglich zugestellten Telegramme in
Deutschland aber „vierstellig“ – Tendenz steigend. Ein Grund für den
Erfolg sei, dass Call-Center-Mitarbeiter derzeit aktiv vor allem an
Unternehmen herantreten und ihnen die Vorzüge des Telegramms aufzeigen.
Die Kundenwerber nennen Beispiele wie: „Ein wichtiger Kunde oder Freund
von Ihnen hat ein Kind bekommen, oder er heiratet, ein Familienmitglied
ist gestorben. Sie wollen von sich hören lassen, aber anrufen ist keine
Option. Was macht mehr Eindruck: eine SMS oder E-Mail – oder ein
Telegrammzusteller, der persönlich, in Ihrem Namen, eine Botschaft
überbringt?“ Die Blumen kann man übrigens gleich mitliefern lassen.
22,55 Euro kostet ein Telegramm (30 Worte mit Schmuckblatt, ohne
Blumen) bei der Post, bei UTS rund die Hälfte.
Die Argumente, warum man so viel Geld für so wenige Worte ausgeben
sollte, sind so alt wie das Telegramm selbst: Historisch war
Deutschland sogar Vorreiter in Sachen Telegrafie. In den 1930er Jahren
war das Deutsche Reich das erste Land, das flächendeckend die
Telex-Maschine einführte, eine Weiterentwicklung der drahtlosen
Radiotelegrafie, die viel genauer Daten übermitteln konnte, als frühere
Telegrafen. Die Technik wurde vor allem vom Nazi-Regime als
Kommunikationsmittel genutzt. Nachrichten wurden verschlüsselt an den
Empfänger geschickt, als Telex-Adresse diente eine bestimmte Zahlen-
und Buchstabenkombination.
1978 wurden immerhin noch rund 13 Millionen Telegramme in Deutschland
verschickt. „Heute ist die Telegrafie irgendwie prähistorisch“, sagt
sogar der Kommunikationshistoriker Klaus Arnold von der Katholischen
Universität Eichstätt-Ingolstadt, der es wissen müsste.
Im Alltagsgebrauch ist die Telegrafie nur noch unter Diplomaten: So
unterhält das Auswärtige Amt dazu einen eigenen Dienst, der bis heute
auch die Glückwünsche und förmlichen Beileidsbekundungen von
Bundesregierung und Bundespräsident über die Botschaften verschickt.
Telegramme gehörten demnach auch für Helmut Kohl über 16 Jahre lang zum
Alltag. Vielleicht haben seine Söhne das einfach vergessen.