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Rechtswissenschaftlerin: Gesetzentwurf zu Hartz-IV räumt Einwände des Verfassungsgerichts nicht aus

Archivmeldung vom 21.10.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 21.10.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Der Hartz-IV-Regelsatz wird in Anlehnung an die statistisch ermittelten Ausgaben von Geringverdienerhaushalten bestimmt. Als "regelsatzrelevant" werden von den rund 535 Euro, die die Referenzhaushalte im Monat zusätzlich zu Miete und Heizkosten ausgeben, knapp 362 Euro anerkannt. Bild: © Hans Böckler Stiftung 2010 Quelle: Bundesarbeitsministerium 2010
Der Hartz-IV-Regelsatz wird in Anlehnung an die statistisch ermittelten Ausgaben von Geringverdienerhaushalten bestimmt. Als "regelsatzrelevant" werden von den rund 535 Euro, die die Referenzhaushalte im Monat zusätzlich zu Miete und Heizkosten ausgeben, knapp 362 Euro anerkannt. Bild: © Hans Böckler Stiftung 2010 Quelle: Bundesarbeitsministerium 2010

Die Festsetzung der Hartz-Regelsätze könnte auch künftig die Gerichte beschäftigten. Denn die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf die Einwände des Bundesverfassungsgerichts keineswegs vollständig ausgeräumt. Zu diesem Ergebnis kommt eine juristische Analyse der Regierungspläne zur Neubestimmung des Grundsicherungsniveaus, die Prof. Dr. Anne Lenze in der aktuellen Ausgabe der WSI Mitteilungen vorlegt.

Die Jura-Professorin an der Hochschule Darmstadt zeigt in ihrem Aufsatz, welche Anforderungen das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht an die staatliche Grundsicherung gestellt haben. Lenze weist auf vier Punkte hin, bei denen bislang verfassungsrechtliche Vorgaben nicht stimmig umgesetzt wurden – und die darum nach Einschätzung der Wissenschaftlerin möglicherweise schon bald wieder die Gerichte beschäftigen werden:

- Es ist mindestens zweifelhaft, ob die Regelsätze wie gefordert eine echte Chance auf Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft gewähren;
- die Orientierung des Grundsicherungsniveaus an den Verbrauchsausgaben des ärmsten Bevölkerungsteils ist kein objektiver Maßstab für die Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums;
- die Politik bestimmt die Hartz-IV-Höhe vor allem mit Blick auf das so genannte Lohnabstandsgebot – obwohl dieses nach dem Urteil des Verfassungsgerichts keine Rolle mehr spielen darf;
- die geplanten Sachleistungen für Kinder von Hilfeempfängern beeinträchtigen die Rechte der Eltern und führen zu einer Stigmatisierung der Kinder.

– Punkt eins: Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft? –
Gemäß dem Menschenwürdepostulat des Artikels 1 im Grundgesetz und dem Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 muss der Staat im Notfall das Existenzminimum seiner Bürger sichern und ihnen eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe verschaffen. Bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums – so verlangt es das Bundesverfassungsgericht – muss der Gesetzgeber „die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht“ erfassen. Dabei stelle sich der Anspruch in einer „technisierten Informationsgesellschaft anders als früher“ dar. Gesellschaftlicher Wandel und neue Bedarfe müssen also berücksichtigt werden. Lenze folgert aus den mehrfachen Hinweisen der Verfassungsrichter auf den gegenwärtigen Stand der Lebensbedingungen, dass die Regelleistung so hoch sein muss, „dass sie den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft ermöglicht“.

Tatsächlich orientiert sich die Höhe der Grundsicherung aber nicht an der Mehrheitsgesellschaft, sondern ausschließlich am unteren Rand der Gesellschaft. Nach derzeit noch geltendem Recht werden die Verbrauchsausgaben der nach ihrem Einkommen geschichteten, untersten 20 Prozent der Gesellschaft betrachtet. Ab 2011 sollen nach dem Willen der Bundesregierung für den Regelbedarf der Erwachsenen sogar nur noch die Verhältnisse der untersten 15 Prozent ausschlaggebend sein – ohne dass es hierfür eine sachliche Rechtfertigung gäbe. Die Orientierung an den einkommensschwächsten Mitgliedern der Gesellschaft sei jedoch grundsätzlich problematisch, so Lenze. Gerade bei Ausbreitung des Niedriglohnsektors stellten sie keinen objektiven Maßstab für die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums mehr dar. Gleichzeitig werde ausgeblendet, dass die oberen Einkommensschichten in den letzten Jahren erhebliche Einkommenszuwächse erzielen konnten. Die Regelsätze würden damit immer weiter von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt.

– Punkt zwei: Weiter Zweifel am Verfahren zur Regelsatzermittlung –
Das Bundesverfassungsgericht hält das derzeit angewandte Statistikverfahren zwar nicht für ungeeignet, um das Existenzminimum festzustellen. Es hat den Gesetzgeber allerdings aufgefordert, darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter Hartz-IV-Niveau liegt, „aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden“. Zwar sind nun alle Haushalte, die vollständig auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, aus der Referenzgruppe entfernt worden. Die Aufstocker und vor allem die Gruppe der „versteckten Armen“ sind jedoch noch enthalten – was zu einer Senkung des Leistungsniveaus führt.
Insgesamt mangelt es dem Statistikverfahren Lenze zufolge an Transparenz. Die vom Statistischen Bundesamt erhobenen und ausgewerteten Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sind nicht allgemein zugänglich, sondern werden nur einem sehr kleinen Kreis ausgewählter Wissenschaftler zur Verfügung gestellt. Die Juristin hält das für rechtlich problematisch. Es könne durchaus sein, dass nach entsprechender Klage „ein Gericht die Offenlegung des Datenmaterials verlangt“. Die Forderung der Richter nach mehr Transparenz sei nicht zu unterschätzen, warnt die Forscherin: „Legt der Gesetzgeber die eingesetzten Methoden und Berechungsschritte nicht nachvollziehbar offen, so ist per se von einer Unvereinbarkeit der Höhe der Regelleistung auszugehen“.

– Punkt drei: Lohnabstandsgebot darf keine Rolle mehr spielen –
Das Lohnabstandsgebot kann zu niedrige Sätze nicht rechtfertigen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts ist das Lohnabstandsgebot verfassungsrechtlich obsolet, so Lenze. Denn nach Auffassung des Gerichts muss der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein, „dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt“. Das im Sozialgesetzbuch XII verankerte Lohnabstandsgebot soll sicherstellen, dass eine fünfköpfige Leistungsbezieherfamilie nicht über mehr Einkommen verfügt, als ein Alleinverdiener mit Ehegatte und drei Kindern im Niedriglohnbereich. Dies sei aber schlichtweg unrealistisch, sagt Lenze. Der Gesetzgeber gestehe mit dem Konzept des Kinderzuschlags selber ein, dass sogar die Unterhaltspflicht für nur ein Kind dazu führen kann, dass Eltern in den Hartz-IV-Bezug rutschen. Wirklich vergleichen ließen sich daher nur Alleinstehende. Gäbe es in Deutschland eine Existenz sichernde Kindergrundsicherung, würde sich die Frage nach dem Abstand zum Lohn ohnehin nicht stellen.

– Punkt vier: Problematische Sachleistungen –
Fast alle Sozialrechtsexperten empfehlen, Sachleistungen nur in Ausnahmefällen einzusetzen, schreibt die Juristin. Denn die staatliche Vergabe von Sachleistungen sei mit erheblichen Problemen behaftet. Zum einen fällt ein großer Verwaltungsaufwand an: Sollten demnächst Sachleistungen an Kinder von Hartz-Empfängern vergeben werden, dann müssen Gutscheine für verschiedene Bedarfspositionen an gut 1,7 Million Kinder unter 15 Jahren verteilt werden. Zum anderen beeinträchtigen Sachleistungen die Autonomie der Eltern, die durch den Mangel an Erwerbseinkommen ohnehin schon eingeschränkt ist. Lenze bezweifelt, dass ein solcher Schritt mit dem Elterngrundrecht des Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes vereinbar ist Mit der vorrangigen ­Deckung des Bildungs- und Teilhabebedarfs über Gutscheine – so gibt Lenze zu bedenken – werden Kinder wie Leistungsberechtigte mit schwerem Alkohol- und Drogenmissbrauch behandelt oder wie Asylbewerber, deren dauerhafter Aufenthalt noch nicht gesichert ist.

Was wirklich gebraucht werde, seien Ganztagsschulen mit einem umfassenden kulturellen, sportlichen und musischen Angebot, zusätzliche Angebote der Jugendarbeit und im Bedarfsfall eine individuelle Unterstützung durch die Jugendhilfe, betont Lenze. Dies würde auch das Problem der Stigmatisierung beheben, weil alle Kinder diese Angebote nutzen könnten. Zudem würden auch die Kinder profitieren, die zwar nicht im Leistungsbezug der Grundsicherungssysteme, dafür aber in Familien mit Niedrigeinkommen leben und die ebenfalls einen hohen Förderbedarf haben.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

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