Sachsen Schlusslicht: Nur 39 % werden nach Tarif bezahlt – niedrigere Löhne und längere Arbeit
Archivmeldung vom 10.05.2019
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtIn Sachsen sind nur 39 Prozent aller Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. Damit ist der Freistaat mit erheblichem Abstand Schlusslicht in Deutschland. In den übrigen ostdeutschen Bundesländern liegt die Tarifbindung im Durchschnitt bei 46 Prozent, in Westdeutschland profitieren im Schnitt 57 Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag (siehe Grafik 1 und 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).
Bei den Betrieben sind in Sachsen noch 15 Prozent an einen Tarifvertrag gebunden, gegenüber 20 Prozent in den übrigen ostdeutschen Bundesländern und 29 Prozent in Westdeutschland. Dabei hat Sachsen aufgrund einer günstigen Wirtschaftsstruktur mit einer starken Industrie eigentlich gute Startbedingungen. Die Leidtragenden sind die Beschäftigten in tariflosen Unternehmen, die deutliche Lohneinbußen hinnehmen müssen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Sie wird heute auf einer Pressekonferenz in Dresden vorgestellt.* Die niedrige Tarifbindung sei auch Ergebnis eines über viele Jahre von der Landespolitik propagierten Leitbildes, Sachsen als „Billiglohnland“ zu positionieren, schreiben die WSI-Forscher Prof. Dr. Thorsten Schulten und Dr. Malte Lübker. Dementsprechend habe die Politik auch Möglichkeiten, nun gegenzusteuern.
Für ihre Studie haben die beiden Wissenschaftler zusammen mit dem langjährigen WSI-Tarifexperten Dr. Reinhard Bispinck die neuesten verfügbaren Daten des IAB-Betriebspanels (Stand: Mitte 2017) sowie die Verdienststrukturanalyse des Statistischen Bundesamtes ausgewertet und zahlreiche Gespräche mit Praktikern der sächsischen Tarifpolitik geführt.
Mitte der 1990er Jahre profitierten laut der Analyse in Sachsen noch rund 70 Prozent der Beschäftigten von einer Tarifbindung. Wie in Deutschland insgesamt ist die Tarifbindung seitdem stark zurückgegangen. Dabei fiel der Rückgang im Freistaat aber besonders drastisch aus. Das galt insbesondere für die zweite Hälfte der 1990er Jahre und in Teilen auch noch für die 2000er Jahre. In den 2010er Jahren ist die Tarifbindung auf niedrigem Niveau relativ konstant geblieben und erst seit 2016 wieder deutlich zurückgegangen (siehe Grafik 2 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).
Weitere Kernergebnisse der Studie:
Branchen, Betriebsgröße, Region: Die Tarifbindung der Beschäftigten in Sachsen reicht von 4 Prozent in der Land- und Forstwirtschaft und 8 Prozent bei Verkehr und Lagerei bis zu 96 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Je größer der Betrieb, desto höher im Schnitt die Tarifbindung. Regional variiert die Tarifbindung in Sachsen nur wenig mit leicht höheren Werten in der Region Leipzig (44 Prozent) gegenüber der Region Dresden (39 Prozent) und Chemnitz (38 Prozent).
Beschäftigte: Zwischen Frauen und Männern zeigen sich bei der Tarifbindung in Sachsen keine Unterschiede. Allerdings arbeiten Vollzeitbeschäftigte (40 Prozent) häufiger in tarifgebundenen Unternehmen als Teilzeitbeschäftigte (37 Prozent). Am geringsten fällt die Tarifbindung mit 22 Prozent bei den geringfügig Beschäftigten aus.
Europäischer Vergleich: Deutschland und insbesondere Sachsen weisen im internationalen Vergleich keine besonders hohe Tarifbindung auf. Viele westeuropäische Länder haben eine Tarifbindung von 70 bis über 90 Prozent. Selbst im Nachbarland Tschechien liegt die Tarifbindung mit 46 Prozent mittlerweile deutlich oberhalb des sächsischen Niveaus.
Strukturanalyse: Aufgrund der im Vergleich zu anderen ostdeutschen Ländern günstigeren Wirtschaftsstruktur müsste Sachsen eigentlich eine höhere Tarifbindung aufweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Metall- und Elektroindustrie, die in Sachsen jeden 10. Arbeitnehmer beschäftigt. Doch gerade in dieser Branche ist die Tarifbindung mit einem Drittel besonders schwach (verglichen mit zwei Dritteln im Westen). Die Schlusslichtposition Sachsens lasse sich „demnach nicht durch strukturelle Faktoren erklären, sondern hängt stark mit den besonderen politischen Rahmenbedingungen und dem Verhalten der Unternehmen zusammen“, betonen die WSI-Experten.
Tarifbindung und Betriebsrat: Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In Sachsen arbeiten allerdings nur 37 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat, während dies in den übrigen ostdeutschen Bundesländern 41 Prozent und in Westdeutschland 44 Prozent sind. Insgesamt arbeiten in Sachsen lediglich 29 Prozent der Beschäftigten in einem Betrieb, der sowohl tarifgebunden ist als auch einen Betriebsrat hat.
Tariforientierung: 29 Prozent der Betriebe in Sachsen geben an, nicht tarifgebunden zu sein, sich aber an einem Tarifvertrag zu orientieren. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) der Betriebe sind hingegen weder tarifgebunden noch orientieren sie sich an einem bestehenden Tarifvertrag. Doch auch bei einer Orientierung der Betriebe an einem Tarifvertrag fallen die Einkommen der Beschäftigten deutlich niedriger und die Arbeitszeiten länger aus als in Betrieben mit Tarifbindung, zeigt die Untersuchung.
Tarifbindung und Entgelt: Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist. Der unbereinigte Rückstand beim Entgelt beträgt über 30 Prozent. Berücksichtigt man die Strukturunterschiede zwischen den Betrieben, bleibt immer noch ein Verdienstunterschied von fast 15 Prozent. Dieser Unterschied ist fast unverändert, wenn sich der Betrieb unverbindlich an einem Tarifvertrag orientiert.
Sächsische Löhne im ostdeutschen Vergleich: Die Löhne in Sachsen liegen unbereinigt nicht signifikant unterhalb der Löhne in den anderen ostdeutschen Bundesländern. Bereinigt um die Wirtschafts- und Betriebsgrößenstrukturen ergibt sich jedoch ein Rückstand von 5 Prozent. „Die vergleichsweise günstige Wirtschaftsstruktur Sachsens schlägt sich nicht in entsprechend höheren Löhnen für die Beschäftigten nieder, was insgesamt vor allem an der schwachen Tarifbindung liegen dürfte“, erklären Schulten und Lübker.
Tarifbindung und Arbeitszeit: Beschäftigte ohne Tarifbindung arbeiten länger als Beschäftigte mit Tarifbindung. Berücksichtigt man die Strukturunterschiede zwischen tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Betrieben so ergibt sich ein Unterschied von knapp einer halben Stunde pro Woche. In Betrieben mit Tariforientierung beträgt die wöchentliche Mehrarbeit 23 Minuten, in Betrieben ohne Tariforientierung dagegen 33 Minuten.
Stärkung des Tarifsystems: „Die sächsische Politik ist lange dem Leitbild des Billiglohnlandes Sachsen gefolgt“, schreiben die Forscher. „Um dieses Bild zu verändern, ist eine Stärkung der Tarifbindung unabdingbar.“ Hierzu könne die Politik die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern und verbindliche Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen und in der Wirtschaftsförderung machen. Darüber hinaus müssten auch die Tarifvertragsparteien gestärkt werden. Während die Gewerkschaften wieder mehr Mitglieder gewinnen müssen, sollten die Arbeitgeberverbände vor allem die Legitimation von Tarifflucht über die OT-Mitgliedschaften beenden. OT steht für „ohne Tarifbindung“. Dabei können Unternehmen zwar Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sein, sind aber nicht an Tarifverträge gebunden.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (idw)