wiiw-Analyse: Die Wirtschaft der Türkei am Scheideweg
Archivmeldung vom 08.05.2023
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Freigeschaltet durch Mary Smith2023 Halbierung des Wachstums auf 2,6%; Erdbebenkatastrophe belastet; massive Inflation und drohende Währungskrise; politische und ökonomische Stabilisierung notwendig
Wirtschaftlich steht die Türkei vor der Präsidentschaftswahl am 14. Mai vor schwierigen Zeiten. Das zeigt die neue Konjunkturprognose des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Während das Land 2022 noch um 5,6% gewachsen ist (nach 11,4% im Jahr 2021), dürfte sich das Wachstum heuer auf 2,6% halbieren. Der private Konsum als bisher wichtigste Stütze wird 2023 an Dynamik verlieren. Die Gründe dafür liegen in einer abflauenden Nachfrage nach den Nachholeffekten im Zuge der Erholung von der Corona-Pandemie und einer schwindenden Kaufkraft der Bevölkerung durch die rekordhohe Inflation.
Im vergangenen Jahr lag diese bei nicht weniger als 72%. Auch für heuer rechnet das wiiw mit einer Teuerung von etwas unter 50%. Die Frage, wie es mit dem Land nach den Präsidentschaftswahlen weitergeht, sorgt für Verunsicherung. Die Folgeschäden des schweren Erdbebens vom Februar sowie die Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik der amerikanischen Notenbank Fed und der EZB in Frankfurt belasten ebenfalls. Die stark in US-Dollar und Euro verschuldete Türkei spürt jeden Zinsschritt erheblich. Das ohnehin hohe Leistungsbilanzdefizit des Landes - also der Saldo zwischen Exporten und Importen von Waren, Dienstleistungen und Kapital - vergrößerte sich von Jänner bis Februar gegenüber dem Vorjahr zudem um 54%. Es ist fraglich, wie lange es noch finanziert werden kann. Auch der Ukraine-Krieg macht sich negativ bemerkbar. Profitierte die Türkei anfangs vom Zustrom russischen Kapitals sowie als Drehscheibe des Handels mit Moskau, sorgt der teilweise Ausfuhr-Stopp für sanktionierte westliche Produkte nach Russland mittlerweile für Verstimmungen mit dem Kreml.
Drohende Währungskrise
„Wenn die ultraexpansive Geldpolitik fortgesetzt wird, drohen dem Land eine weitere starke Abwertung der Lira und größere Risiken für den Finanzsektor, insbesondere wenn die Fed die Zinsen weiter anhebt", sagt Richard Grieveson, stellvertretender Direktor und Türkei-Experte des wiiw. „Im Jahr 2018 haben wir deutlich gesehen, welche Probleme diese Geldpolitik verursachen kann, insbesondere in Kombination mit ungünstigen externen Bedingungen“, so Grieveson.
Aber auch bei einem Machtwechsel dürfte die Inflation erst mittelfristig in den Griff zu bekommen sein. „Obwohl die Opposition mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu das Ende der unkonventionelle Wirtschaftspolitik Erdogans und eine unabhängige Notenbank verspricht, würde letztere die Zinsen nur langsam erhöhen können, um einen Schock im Finanzsystem zu vermeiden“, analysiert Meryem Gökten, ebenfalls Türkei-Expertin am wiiw und Autorin der neuen Prognose für das Land.
Erdbeben bremst das Wachstum
Die Schäden durch das verheerende Erdbeben im Februar dieses Jahres stellen jede neue Regierung vor große Herausforderungen. Etwa 13 Millionen Menschen in zehn Provinzen des Landes sind von der Katastrophe betroffen. Über 50.000 Personen wurden getötet. Die vom Erdbeben verwüsteten Regionen erwirtschafteten bisher 9,3% des türkischen BIP sowie 8,5% der Exporte und 15% der landwirtschaftlichen Produktion. Die türkische Regierung veranschlagt den Gesamtschaden auf rund 104 Mrd. US-Dollar. „Auch wenn die Ausgaben für den Wiederaufbau die Wirtschaft stützen dürften, wird das Wachstum durch die Zerstörungen bei Infrastruktur und Maschinen, unterbrochene Lieferketten und den Verlust von Arbeitskräften und Investitionen insgesamt doch leiden“, konstatiert Gökten. Nicht zuletzt deshalb hat das wiiw seine Wachstumsprognose für die Türkei für das laufende Jahr gegenüber dem Winter um 0,4 Prozentpunkte auf 2,6% nach unten korrigiert.
Politische und makroökonomische Stabilität notwendig
Grundsätzlich verfügt die Türkei laut der wiiw-Analyse über ein enormes Wachstumspotenzial. Dieses lässt sich allerdings nur über eine größere politische und makroökonomische Stabilität heben. Notwendig wäre vor allem eine umsichtige, stabilitätsorientierte Geldpolitik, um die hohe Inflation und den Verfall der Währung einzudämmen. Das chronisch hohe Leistungsbilanzdefizit zu bekämpfen, dessen Finanzierung in den letzten Jahren schwieriger geworden ist und die Türkei von Stimmungsschwankungen ausländischer Investoren und der US-Geldpolitik abhängig gemacht hat, sollte eine weitere Priorität jeder neuen Regierung sein.
Dafür muss auch die inländische Industrieproduktion angekurbelt werden, um die Abhängigkeit des Wirtschaftswachstums von kreditfinanzierten Ausgaben der Privathaushalte zu verringern. „Nur über mehr politische und makroökonomische Stabilität werden sich auch mehr ausländische Direktinvestitionen anziehen lassen. Für den erforderlichen Strukturwandel in der Türkei aber auch den Wiederaufbau nach der Erdbebenkatastrophe sind diese unabdingbar“, betont Meryem Gökten.
Quelle: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) (ots)