Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier: Die Wirtschaftskraft allein am BIP zu bemessen, finde ich merkwürdig
Archivmeldung vom 09.11.2023
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Freigeschaltet durch Mary SmithIn Deutschland herrscht Katerstimmung. Fachkräftemangel, hohe Energiepreise und überbordende Bürokratie nagen am Image des "Exportweltmeisters" und der "Wirtschaftsnation". Sogar das Schreckgespenst der Deindustrialisierung geht um. "Deutschland hat immer noch große Chancen", finden die Wirtschaftsweise und Ökonomieprofessorin Prof. Dr. Ulrike Malmendier und Dr. Marc Lakner, Kearneys Managing Director für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Ihr übereinstimmendes Fazit: Doch Deutschland muss diese Chancen auch ergreifen. Und ob das BIP einmal leicht im Plus oder Minus liegt, sei nicht unbedingt entscheidend.
In einer Zeit der globalen Krisen und Unsicherheiten plädieren zwei Top-Experten für eine optimistische und innovative Haltung in der deutschen Wirtschaft. Marc Lakner, Partner bei Kearney, und Verhaltensökonomin Ulrike Malmendier zeigen auf, wie Deutschland seine Stärken im internationalen Handel nutzen und gleichzeitig neue Herausforderungen meistern kann.
Beide sind sich einig, dass das deutsche Modell der starken internationalen Handelsbeziehungen weiterhin funktionieren kann, wenn es sich an die veränderten Bedingungen anpasst. "Gerade dann, wenn sich andere Länder wie etwa die USA mit ihrem ,New Washington Consensus` stärker zurückziehen, könnten wir neue Märkte erobern", sagt Malmendier. "Während der Pandemie haben wir bereits mit dem Ausbau von neuen Handelsbeziehungen erste Schritte in die richtige Richtung gemacht - Unternehmen dürfen nicht zu einseitig in ihren Handelsbeziehungen sein. Meine Hoffnung ist nun, dass wir über den Kreis an Ländern, mit denen wir früher Handel betrieben haben, hinausgehen und so unabhängiger von einzelnen Staaten werden." Malmendier verweist auf das Beispiel der Aufnahme von China in die WTO, von der man sich Vorteile für alle Länder erhofft hatte. Dem war dann aber nicht so. Malmendier: "Vor allem in den USA sind viele Arbeitsplätze und auch Absatzmärkte verloren gegangen - der berühmte China-Schock. In Deutschland hingegen ist dieser Schock ausgeblieben. Hierzulande hat man es geschafft, China als Zulieferer und die dortigen Absatzmärkte zu nutzen. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass bei uns nicht unbedingt alles so laufen muss wie in den USA. Daher mein Optimismus!"
Kearneys "Regenerate"-Ansatz als Orientierungssystem
Lakner stimmt ihr zu, betont aber, dass es nicht nur um den Exporttitel gehe, sondern auch um die Qualität und Innovation der Produkte. "Wichtiger ist für mich, was und wie wir produzieren. Wie wir innovieren und wie wir das alles in andere Länder tragen. Dafür braucht es starke Lieferketten, die längst keine Selbstverständlichkeit mehr sind - auch das hat uns spätestens Corona gelehrt, sagt er. Er stellt den Ansatz "Regenerate" vor, den Kearney entwickelt hat, um Unternehmen zu helfen, sich in einem volatilen Umfeld zu bewegen.
Marc Lakner: "Wir bei Kearney sind davon überzeugt, dass die Widerstandsfähigkeit oder Resilienz von Unternehmen allein nicht mehr ausreicht, um sich langfristig im Markt zu behaupten. Stattdessen sollten Unternehmenslenker einen Schritt weitergehen - und ein ,Regenerative Business` anstreben. Indem sie Menschen, Technologien und Geschäftsprozesse gemeinsam denken, schaffen Unternehmen die Voraussetzungen für Erneuerung und den nachhaltigen Erfolg ihres Geschäfts. Konkret heißt das, sich bei Entscheidungen immer auch die Frage zu stellen: Wie wirkt sich dieses unternehmerische Tun auf die Beschäftigten aus und wie kann ich sie bei den Neuerungen mitnehmen? Wie kann ich durch den Einsatz neuer Technologien ,ahead` sein und das mit bestehenden Geschäftsprozessen verbinden, um dadurch meine Erfolgsaussichten zu verbessern? Nur so können sich Unternehmen in Zeiten des permanenten Wandels zukunftsfähig aufstellen."
Mehr Mut empfiehlt auch Malmendier: "Ich möchte gerne dazu aufrufen, selbst in diesen Zeiten der Unsicherheit mehr Risikofreude zu entwickeln und zu leben. Bleiben wir dagegen behäbig und bremsen den Strukturwandel, werden sich die Wachstumsraten nicht verbessern. Wir müssen zupackender werden und aufs Tempo drücken - bei den LNG-Terminals hat das gut funktioniert."
Drei Hebel gegen den Fachkräftemangel
Malmendier: "Wir zeigen in unserem Jahresgutachten, dass das Wachstum des Produktionspotenzials - also die mittelfristigen Wachstumsaussichten - auf einem historischen Tiefstand ist. Wenn sich nichts ändert, sind die Aussichten für die kommenden Jahre sehr schlecht. Und ein ganz entscheidender Faktor für das gehemmte Wachstum ist der Mangel an Arbeitsstunden. Es fehlt so dramatisch an Fachkräften und auch an Arbeitskräften im Allgemeinen, dass wir tagtäglich darüber sprechen sollten. Dieser Trend hat sich schon lange vor Corona abgezeichnet und es wurde viel zu wenig unternommen. Trotzdem geht es, wenn ich zur wirtschaftlichen Situation gefragt werde, meist zuerst ums BIP. Das finde ich merkwürdig und es führt in die Irre. Denn ob das BIP aktuell leicht im Minus oder leicht im Plus ist, halte ich für vernachlässigbar im Vergleich zu all jenen Themen, an denen langfristig unser Wachstum hängt."
Lakner empfiehlt folgende drei Hebel: "Zunächst müssen Aus- und Fortbildung aktualisiert werden. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass etwa Instandhalter nur mechanisch-technisch ausgebildet werden und gar nicht mit Industrie 4.0 und Digitalisierung vertraut sind. Zum Zweiten sollten wir das Reservoir an Arbeitskraft stärker thematisieren, was etwa die Arbeitszeiten betrifft und auch den Anteil der berufstätigen Frauen in Deutschland. Hierzulande arbeiten prozentual weniger Frauen als in vielen anderen Ländern. Wir sollten perfekte Rahmenbedingungen schaffen, um ihren Anteil zu erhöhen. Zum Dritten kann uns eine vertiefte Automatisierung helfen, deutliche Leistungssprünge von etwa 30 bis 40 Prozent zu erleben. Die Entwicklungen in der KI sind vergleichbar mit dem Internet vor 30 Jahren - wer hier nicht am Start ist, dem entgeht viel Potenzial."
Das perfekte Vorbild für eine gute Energiepolitik wurde noch nicht gefunden...
Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg ist das Thema Energiepreise und Energieversorgung ein Thema in der breiten Öffentlichkeit. Malmendier: "Das perfekte Vorbild für eine gute Energiepolitik habe ich leider noch nicht gefunden. Trotzdem sehe ich, dass hierzulande der Ausbau der Erneuerbaren nicht in Schwung kommt - was sehr besorgniserregend ist. Währenddessen verheddern wir uns in Debatten über Industriestrompreise, um Dinge so zu erhalten, wie sie sind - anstatt beherzt die Krise zu nutzen, um das, was wir langfristig brauchen, schneller voranzutreiben. Wir wären sicherlich auch gut beraten, hier vermehrt auf die europäische Kooperation zu setzen und dabei zu helfen, Solarenergie auf der Iberischen Halbinsel massiv auszubauen - natürlich mitsamt Stromtrassen und Hydrogen-Pipelines."
Eng verbunden mit dem Thema leistbare Energie ist auch das Thema Deindustrialisierung. "Diese Unkenrufe sind mal wieder typisch für uns Deutsche", fährt Malmendier fort. "Ich sehe überhaupt nicht, dass es zu einer Massenabwanderung der Industrie aus Deutschland kommt - und das aus gutem Grund: Wir haben ein extrem gutes Humankapital, ein verlässliches Rechtssystem, eine gute Infrastruktur und eine lebendige und gut funktionierende Demokratie. Es gibt also viele gute Gründe, in Deutschland ansässig zu sein, die meines Erachtens so schnell nicht verschwinden werden." Lakner stimmt ihr zu: "Über die Deindustrialisierung wird ja schon seit Jahrzehnten gesprochen - bisher ist sie noch nicht eingetreten. Ja, natürlich gibt es Abwanderung, andererseits muss das keine Einbahnstraße sein. Gerade wenn wir innovativ sind, werden sich hier neue attraktive Standorte entwickeln. Malmendier: "Trotzdem wird wahrscheinlich nicht jede energieintensive Produktionssparte in Deutschland bleiben - und sollte das vielleicht auch gar nicht, angesichts der komparativen Vorteile zwischen den Ländern.
Lakner: "Derzeit müssen große Unternehmen aus traditionellen Sparten wie Automotive, Chemie oder Maschinenbau einen Spagat hinbekommen. Sie müssen Megatrends wie Halbleiter, Elektrifizierung, KI oder Wasserstoff vorantreiben und gleichzeitig finanzieren. Das sind viele Themen auf einmal und in Summe eine große Belastung. Gleichzeitig kann man das aber auch als eine Riesenchance begreifen: Wer jetzt die Trends richtig angeht, hat die Chance, ganz vorne mitzuspielen und gegenüber seinen Mitbewerbern ,ahead` zu sein."
Quelle: Kearney (ots)