BWA: Mittelständische Industrie legt Produktion lahm und verdient am Gasverkauf
Archivmeldung vom 29.09.2022
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.09.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Sanjo Babić"Neues Geschäftsmodell": Produktion lohnt sich nicht mehr, aber am Gasverkauf wird verdient. Geht aber nur gut, solange die Firmen über langfristige Lieferverträge noch an billiges Gas kommen. Danach platzt die Blase und die Wertschöpfungsketten sind zerstört.
Geschäftsführer Harald Müller: "Der industrielle Kern Deutschlands steht auf der Kippe."
Viele mittelständische Industriebetriebe haben die Produktion eingestellt und verdienen gutes Geld mit dem Gasverkauf, hat die Bonner Wirtschafts Akademie (BWA) bei Stichproben festgestellt. BWA-Geschäftsführer Harald Müller erklärt das "neue Geschäftsmodell": "Die Firmen haben langfristige Versorgungsverträge, mit denen sie Gas nach wie vor günstig einkaufen. Doch statt es für die Produktion zu verwenden, verkaufen sie es mit immenser Gewinnmarge an andere Betriebe weiter. Die eigene Fertigung liegt in dieser Zeit einfach brach, die Belegschaft wird nach Hause geschickt. Das klingt auf den ersten Blick absurd, ist aber betriebswirtschaftlich für diese Unternehmen angesichts der aktuellen Lage am Energiemarkt äußerst sinnvoll."
Betriebswirtschaftlich sinnvoll, volkswirtschaftlich eine Katastrophe
"Was für die von der Energiekrise betroffenen Unternehmen sinnvoll ist, sofern sie langfristige Lieferverträge besitzen, stellt allerdings volkswirtschaftlich eine nationale Katastrophe dar", gibt BWA-Chef Harald Müller zu bedenken. Durch die stillgelegte Produktion tritt eine zunehmende Knappheit an Gütern aller Art ein, die die Versorgungslage verschärft und die Inflation antreibt, analysiert der Akademie-Chef. Hinzu kommt, dass alle in der Wertschöpfungskette des Unternehmens vor- und nachgelagerten Firmen unmittelbar betroffen sind, wenn die Produktion eingestellt wird. "Das eine Unternehmen verdient zwar gut an der Gasmarge, aber die Zulieferer und Abnehmer müssen möglicherweise Insolvenz anmelden, weil ein wichtiges Glied in der Kette, die Fertigung, über Wochen oder gar Monate hinweg ausfällt", zeigt Müller die Zusammenhänge auf. Den Industriebetrieben könne man dennoch keinen Vorwurf machen, lieber die eigene Firma, statt die gesamte Wirtschaft über die Krise retten zu wollen. "Unternehmen, die sich diesem neuen auf den ersten Blick absurden Geschäftsmodell entziehen oder schlichtweg nicht vorausschauend genug waren, sich durch langfristige Verträge mit billigem Gas einzudecken, stehen vor dem Konkurs; erste Beispiele hierfür gibt es bereits", sagt Harald Müller. Allerdings warnt der BWA-Chef: "Die Sache geht betriebswirtschaftlich nur solange gut, wie die Gasversorgungsverträge tatsächlich erfüllt werden. Sobald kein Gas mehr ankommt, platzt die Blase."
Harald Müller: "Politik ist ahnungslos über die Zusammenhänge."
In der Politik seien diese Zusammenhänge häufig gar nicht bekannt, hat Akademie-Chef Harald Müller in politischen Gesprächsrunden festgestellt. Er wundert sich: "In den Ministerien wird sogar noch gefeiert wegen der vermeintlichen Einsparungen an Energiekosten, ohne zu wissen, dass diese häufig schlichtweg aus der Stilllegung von Produktionsanlagen kommen." Er verweist auf Analysen, denen zufolge die deutsche Industrie den Energieverbrauch etwa um ein Viertel reduziert hat. "Doch etwa die Hälfte davon resultiert aus Produktionsstilllegungen", ist Harald Müller überzeugt. "Die mittelständische Industrie stellt ein Herzstück der deutschen Wirtschaft dar", gibt der BWA-Geschäftsführer zu bedenken. Er befürchtet: "Wenn die Produktion stillsteht, fallen viele Wertschöpfungsketten weg und viele Betriebe entlang dieser Ketten werden in die Insolvenz getrieben. Damit steht der industrielle Kern Deutschlands auf der Kippe."
Quelle: BWA Akademie (ots)