Immer mehr Nachwuchsmanager kehren Deutschland den Rücken
Archivmeldung vom 17.10.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakDie Auswirkungen des demografischen Wandels werden für die deutschen Betriebe immer deutlicher spürbar. Allerdings verlieren die Betriebe in diesem Land auch immer häufiger Nachwuchs-Manager, die so genannten "Top-Talente", durch Abwanderung ins Ausland.
Mit Schweizer Gemütlichkeit hat der Job von Stephan Rauscher nichts zu tun. "Die Anforderungen sind hier nicht geringer als in Frankfurt, London oder New York", sagt der Master of International Economics bei der Investmentbank UBS in Zürich. Dorthin wechselte Rauscher im August 2006, nachdem er zuvor fast fünf Jahre lang für eine Unternehmensberatung in München arbeitete. Seine Entscheidung hat der 33-Jährige noch keine Sekunde bereut. "Netto bleibt mir hier deutlich mehr, und der Standort besitzt einen hohen Freizeitwert."
Das Beispiel Rauscher steht für eine anhaltende Absetzbewegung: Junge Fach- und Führungskräfte verlassen Deutschland. Zuletzt sind zehn Prozent mehr Top-Talente ins Ausland abgewandert als hinzukamen. Für die entsprechenden Studien befragte der Karrieredienst Experteer in Kooperation mit dem britischen Marktforschungsinstitut OMIS Research mehr als 13.000 Angestellte aus 20 europäischen Ländern. Von März 2007 bis März 2008 lief die Untersuchung in Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien, der Schweiz, Großbritannien sowie insgesamt zehn Ländern Mittel- und Osteuropas.
"Die besten Köpfe Deutschlands sind mobiler als noch vor ein paar Jahren und eher bereit, für den nächsten Karriereschritt in ein anderes Land zu ziehen", folgert Experteer-Geschäftsführer Christian Göttsch. Weitere Verlierer im Wettbewerb der Länder sind Frankreich mit einem Abwanderungssaldo von neun Prozent und Großbritannien mit acht Prozent.
Weniger Sicherheit, aber Sparen bei den Sozialabgaben
Insgesamt 13 Prozent der europäischen Führungskräfte haben bereits einen Job im Ausland angenommen. Die meiste Bewegung zeigt sich bei Beratungsfirmen, im Banken- und Finanzsektor sowie in der IT-Branche.
Der Exodus der Spitzenkräfte scheint kein kurzfristiges Phänomen zu sein. Viele Jungmanager richten sich auf eine längere Zeit fernab der Heimat ein. So wie Florian Weimert, der nach zweieinhalb Jahren als Online-Marketingmanager beim Baur Versand zum börsennotierten US-Unternehmen Vista Print wechselte. Nach seiner ersten Station in Boston arbeitet er für das Unternehmen jetzt in Barcelona. "Ich kann mir auch langfristig eine Zukunft im Ausland vorstellen", sagt Diplom-Sportökonom und Multimediafachmann Weimert nach gut drei Jahren bei seinem US-amerikanischen Arbeitgeber.
Außer der Neugier auf ein anderes Umfeld in einem internationalen Unternehmen und der Lust auf neue Kultur, Menschen und Sprache entscheidet der Management-Nachwuchs auch nach handfesten wirtschaftlichen Kriterien. "Der Job im Ausland ist verbunden mit einem attraktiven Vergütungspaket und interessanten Karrierechancen", erklärt Weimert.
Gute Gehälter in Deutschland
Er nimmt in Kauf, dass in einer amerikanischen Firma zum Beispiel die Kündigungsfrist einen Tag beträgt, während es in Deutschland sechs Wochen sind. Die geringere berufliche Sicherheit gehört für ihn zum Gesamtpakt dazu. "Dafür ist die Abgabenquote für Steuern und Soziales in Spanien als auch in den USA deutlich geringer als in Deutschland", so Weimert.
Das Gehaltsniveau an sich kann kaum die Ursache für den Exodus der Experten sein. Je nach Karrierestufe liegt das mittlere Einkommen für die untersuchten Jobs in Europa zwischen 50.000 und 75.000 Euro pro Jahr. In Deutschland wird dabei das höchste Salär bezahlt. In nahezu jeder Kategorie – vom Geschäftsführer eines Großunternehmens bis zur Fachkraft – liegen die Bruttoeinkommen hierzulande über dem europäischen Durchschnitt.
Schweiz, Holland, Belgien und Spanien sind Talent-Gewinner
Aber: "Arbeiten im Ausland ist attraktiver geworden, weil dort das verdiente Geld meist mehr wert ist als in Deutschland", stellt UBS-Manager Rauscher fest. "Außerdem sind in etlichen Branchen die Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten besser."
Angesichts des viel zitierten "War of Talents" ist für den Standort Deutschland eine Tatsache besonders schmerzlich: Vor allem kluge Köpfe wandern aus. Von den Befragten arbeitet ein Drittel der im Ausland beschäftigten Kandidaten als Manager oder Abteilungsleiter, drei Viertel verfügen über mehr als fünf Jahre Berufserfahrung, mindestens 85 Prozent haben ein Studium absolviert.
Attraktivster europäischer Standort für qualifizierte Fach- und Führungskräfte aus dem Ausland ist die Schweiz mit einem Netto-Talente-Import von 42 Prozent. Das heißt: Die Zahl der beruflichen Einwanderer liegt um 42 Prozent höher als die Zahl der Abgänge. Auch in den Niederlanden, Belgien und Spanien übertrifft der Import an Talenten den Export.
Heimkehr nicht ausgeschlossen
Unter Talentflucht leiden dagegen in hohem Maße die zehn von Experteer untersuchten osteuropäischen Länder. Die Abwanderungsquote liegt bei 18 Prozent und ist damit höher als in jeder anderen Region in Europa. Vor allem Fach- oder Branchenspezialisten sowie Projektleiter zieht es von Bulgarien, Tschechien, Estland, Ungarn, Litauen, Lettland, Polen, Rumänien, der Slowakischen Republik und Slowenien ins Ausland.
Die deutschen Auswanderer sind für die Wirtschaft in ihrer Heimat allerdings nicht unwiderruflich verloren. UBS-Banker Stephan Rauscher in der Schweiz sagt, dass er "irgendwann wieder einmal in München leben und arbeiten will".
Vistaprint-Manager Florian Weimert, derzeit in Spanien zu Hause, fühlt sich im Ausland wohl und kann sich eine langfristige Zukunft dort vorstellen. Es sind eher die persönlichen Bindungen, die ihn zu einer Rückkehr bewegen würden. "Deutschland ist und bleibt meine Heimat mit Familie und Freunden."