Behindertenrechtsorganisation warnt Ampel-Koalition vor Stillstand in der Behindertenpolitik
Archivmeldung vom 03.11.2021
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićDie bundesweit tätige Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch e. V. mahnt an, in den Koalitionsverhandlungen die Rechte von Menschen mit Behinderung nicht als Randthema außen vor zu lassen.
"Es geht immerhin um die Lebenswirklichkeit von 8 Millionen Bundesbürgern", beschreibt der bekannte Aktivist Raul Krauthausen die Situation. In Anbetracht der vagen und knappen Formulierung im Sondierungspapier, man wolle die Teilhabe "weiter ausbauen" sowie "Barrierefreiheit [...] fördern", bezweifelt der Verein, dass die Belange von Menschen mit Behinderung im Fokus der möglicherweise kommenden Regierungsparteien sind.
"Der UN-Behindertenrechtskonvention, die eigentlich seit 2009 geltendes Recht in Deutschland ist, muss endlich vollständig Geltung verschafft werden. Es geht nicht um irgendwelche Zugeständnisse oder ein Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft, sondern um die längst überfällige, wirksame Durchsetzung von verbrieften Rechten von Menschen mit Behinderung", stellt Anne Gersdorff, Beraterin für inklusive Arbeit, klar.
Eine Verpflichtung auch der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, wie sie in Österreich, Großbritannien oder den USA längst seit Jahrzehnten besteht, sei hierzulande überfällig. "In Deutschland wird relativ schnell von einer Überforderung der Wirtschaft gesprochen, ohne zu verstehen, dass es lediglich um zumutbare Maßnahmen geht. Die unnötige und leicht zu überbrückende Stufe vor dem Restaurant, das Verbot, den Assistenzhund mit in die Räumlichkeit zu nehmen, oder der Rauswurf eines Gastes mit Behinderung, weil der andere Gäste störe - diese Dinge müssen der Vergangenheit angehören", erklärt der AbilityWatch-Vorsitzende Constantin Grosch.
Ebenso sollte es für die Betroffenen keines bürokratischen und juristischen Kampfes mehr bedürfen, ihre Wohnform frei wählen zu dürfen. Zwar stellten regelmäßig Gerichte klar, dass kein Mensch in ein Heim gezwungen werden darf, doch für Betroffene ist es bis zu einer solchen Entscheidung ein langer Weg voller Existenzängste. Viele stehen das nicht durch, beschreibt Nancy Poser, die auch im Forum behinderter Juristinnen und Juristen mitarbeitet, die Situation. Hier bedürfe es einer rechtlichen Klarstellung.
Auch hofft die Behindertenrechtsorganisation, dass die künftigen Koalitionspartner erkennen, dass die Umsetzung moderner Teilhabeprinzipien sogar haushaltspolitisch Vorteile bringen würde: "Teilhabeleistungen, die ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen erst ermöglichen, bringen noch immer eine Begrenzung vom Einkommen und Vermögen der Betroffenen mit sich. Menschen mit Behinderung, für die die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oft mit größeren Schwierigkeiten behaftet ist, als für Menschen ohne Behinderung, stehen danach trotz gleicher Arbeit finanziell schlechter da, als ihre Kolleg*innen ohne Behinderung", erläutert der Aktivit Thomas Schulze zur Wiesch. Er fügt hinzu: "Besonders irritierend ist dies deshalb, da die Einkommens- und Vermögensprüfung für die Verwaltungen kostenintensiver ist, als die von den Betroffenen abgeschöpften Einkommen Einnahmen generieren. Der Staat verschwendet hier also Steuergelder, um behinderte Menschen nur aufgrund ihres behinderungsbedingten Hilfebedarfs lebenslang finanziell schwach zu stellen. Dies ist Ausdruck des veralteten Fürsorgeprinzips, welches längst durch die gleichberechtigte Teilhabe entsprechend der UN Behindertenrechtskonvention abgelöst sein sollte."
Dass die Ampel-Koalitionäre den Wechsel in der Denke bereits vollzogen haben, bezweifelt Nancy Poser: "Keine der 22 verhandelnden Arbeitsgruppen beschäftigt sich ausdrücklich mit einer progressiven Behindertenpolitik. Politiker verweisen stattdessen in Diskussionen auf die Arbeitsgruppe für Soziales."
Die Organisation AbilityWatch e. V. hat die aus ihrer Sicht dringlichsten Regelungsbedarfe auf dem Feld der Teilhabe von Menschen mit Behinderung hier zusammengefasst.
Quelle: AbilityWatch e.V. (ots)