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ROG: Neues türkisches Internetgesetz würde Informationsfreiheit massiv einschränken

Archivmeldung vom 21.01.2014

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 21.01.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Große Nationalversammlung der Türkei: Der Sitz des Parlamentspräsidenten und die Regierungsbank (rechts). Im Hintergrund: „Alle Macht geht bedingungslos vom Volke aus!“
Große Nationalversammlung der Türkei: Der Sitz des Parlamentspräsidenten und die Regierungsbank (rechts). Im Hintergrund: „Alle Macht geht bedingungslos vom Volke aus!“

Foto: Patrickneil
Lizenz: CC-BY-SA-3.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Reporter ohne Grenzen (ROG) ruft das türkische Parlament zur Ablehnung des geplanten Internetgesetzes auf. Zugleich appelliert die Menschenrechtsorganisation an die Repräsentanten der Europäischen Union, den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan bei seinen heute (Dienstag) beginnenden Gesprächen in Brüssel zu grundlegenden Änderungen an dem Entwurf zu drängen. Die geplante Reform des Gesetzes Nr. 5651, über die in Kürze das Parlament in Ankara beraten soll, würde die Möglichkeiten türkischer Behörden zur Überwachung und Zensur des Internets drastisch ausweiten.

"Mit diesem Gesetz könnten türkische Behörden praktisch ohne rechtsstaatliche Kontrolle beliebige Webseiten wegen kritischer Äußerungen über Tabuthemen oder Politiker sperren", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Das Vorhaben fügt sich nahtlos in eine Reihe repressiver Reaktionen der türkischen Regierung auf die Protestbewegungen seit dem vergangenen Sommer ein. Ministerpräsident Erdogan sollte endlich begreifen, dass er Kritik an seiner Politik nicht mit immer weiteren Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit beenden kann."

Schon bisher kann die türkische Aufsichtsbehörde für Telekommunikation (TIB) ohne Richterbeschluss Webseiten mit "obszönen" Inhalten sperren. Das nun von einem Abgeordneten der Regierungspartei AKP eingebrachte Gesetz würde diese Befugnis auf Verletzungen der Privatsphäre, diskriminierende oder beleidigende Inhalte sowie Maßnahmen zum Schutz von Familie und Kindern erweitern. Auch das Kommunikationsministerium soll künftig Sperrungen anordnen dürfen.

Wegen der fehlenden richterlichen Kontrolle und der weit gefassten Kriterien befürchten Kritiker, dass die Änderungen zu massenhafter Zensur führen könnten, zumal die willkürliche Sperrung von Internetseiten schon länger gängige Praxis in der Türkei ist (http://bit.ly/KBvfNR, http://bit.ly/1iiWHiy). Beobachter warnen, die neuen Befugnisse könnten etwa verwendet werden, um Satire-Webseiten wie Zaytung (http://www.zaytung.com) und kritische Online-Foren wie Eski Sözlük (https://eksisozluk.com, http://bit.ly/1mnSCGU) zu sperren.

Die Frist zwischen einem Sperrbeschluss und seiner Umsetzung würde nach dem Entwurf von 72 auf 24 Stunden, in "Notfällen" auf vier Stunden herabgesetzt. Wer seine Privatsphäre verletzt wähnt, könnte sich direkt bei einem Internetanbieter eine Sperre erwirken, die ebenfalls binnen vier Stunden wirksam werden müsste. Einsprüche sollen nur im Nachhinein möglich sein. Sperrungen auf Anordnung einer Staatsanwaltschaft sollen ohne Bestätigung eines Richters gelten und von den Strafverfolgern selbst verlängert werden können.

Zusätzlich sollen die Behörden erweiterte technische Möglichkeiten der Zensur erhalten: So sollen sie künftig nicht nur die Domain-Bezeichnungen von Webseiten, sondern auch deren IP-Adressen sperren können. Dies würde es unmöglich machen, die Zensur durch die Verwendung von Proxy-Servern oder ähnlichen Methoden zu umgehen.

In der vorliegenden Form würde das Gesetz das gesamte türkische Internet unter die direkte Kontrolle der TIB bringen. Zugleich ist geplant, die Behörde weitestgehend vor dem Zugriff der Justiz zu schützen. Ermittlungen gegen ihre Angestellten sollen nur mit Zustimmung des TIB-Präsidenten möglich sein. Um Entscheidungen des Behördenchefs selbst zu überprüfen, wäre die Zustimmung des Kommunikationsministers nötig.

Weiterhin ist die Schaffung eines neuen Verbands der Internetanbieter geplant, bei dem Anfragen zur Sperrung oder Löschung von Inhalten gebündelt werden sollen. Zu befürchten ist, dass dieser Verband als zusätzliches Mittel zur Kontrolle der Anbieter fungieren wird, der diese zum Einsatz der vorgesehenen Überwachungstechniken zwingen könnte. Die Strafen für Anbieter, die Anordnungen zur Löschung von Inhalten nicht sofort umsetzen, sollen auf bis zu 100.000 türkische Lira (33.000 Euro) steigen. In einem Parlamentsausschuss wurden sogar Haftstrafen für Anbieter diskutiert, die Webseiten nicht wie angeordnet sperren.

Die Internetanbieter sollen verpflichtet werden, die Verbindungsdaten ihrer Nutzer ein bis zwei Jahre lang zu speichern und auf Verlangen den Behörden zur Verfügung zu stellen. Welche Daten erfasst und wozu sie verwendet werden könnten, lässt der Gesetzentwurf offen. Experten zufolge dürfte die Speicherung die Adressen besuchtet Webseite, Suchanfragen, IP-Adressen und Betreffzeilen von E-Mails umfassen.

Die Türkei nimmt Platz 154 von 179 Ländern auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit ein. Sie steht seit Jahren auf der Liste der Länder, die wegen ihrer repressiven Internetpolitik unter besonderer Beobachtung stehen (http://bit.ly/KBvfNR).

Quelle: Reporter ohne Grenzen e.V. (ots)

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