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ROG: Kolumbien muss historische Chance zu mehr Schutz für Journalisten nutzen

Archivmeldung vom 06.10.2016

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 06.10.2016 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Logo - Reporter ohne Grenzen e.V.
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Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert die Konfliktparteien in Kolumbien auf, bei ihren weiteren Verhandlungen über ein Ende des Bürgerkriegs keine Abstriche bei Fragen der Sicherheit von Journalisten und anderen Aspekten der Pressefreiheit zu machen. In dem jahrzehntelangen Konflikt sind Medienschaffende zu Dutzenden Opfer von Gewalttaten geworden, viele weitere haben Drohungen und Eingriffe in ihre Arbeit erlebt.

"Trotz aller Zumutungen für die Opfer des Bürgerkriegs enthält der im Referendum abgelehnte Friedensvertrag viele Ansatzpunkte für eine Stärkung der Pressefreiheit", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Ein überarbeitetes Abkommen sollte nicht hinter diese Vereinbarungen zurückfallen und die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte erschweren. Diese historische Chance für eine Durchbrechung des Kreislaufs von Gewalt, Straflosigkeit und Selbstzensur darf Kolumbien nicht ungenutzt verstreichen lassen."

Nach dem gescheiterten Referendum über den Friedensvertrag mit der Rebellengruppe FARC hat Präsident Juan Manuel Santos die Waffenruhe mit der Farc bis 31. Oktober befristet und damit den Druck für eine Einigung erhöht (http://t1p.de/3rrf). Sein Vorgänger Alvaro Uribe, der das Nein-Lager anführt, hat sich nach dem Referendum dagegen ausgesprochen, die Regelungen zur Übergangsjustiz auch für die Sicherheitskräfte anzuwenden.

Ihnen werden jedoch ebenfalls schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die kolumbianische Stiftung für Pressefreiheit (Fundación para la Libertad de Prensa, FLIP) etwa hat in den vergangenen 20 Jahren mehr als 600 Verletzungen der Pressefreiheit im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg gezählt; 137 davon gingen auf das Konto der FARC und 230 auf das der Sicherheitskräfte.

STARKER ANSTIEG DER ÜBERGRIFFE WÄHREND DER FRIEDENSVERHANDLUNGEN

Kolumbien ist für Journalisten nach Mexiko weiterhin das gefährlichste Land des amerikanischen Kontinents. Allein seit dem Jahr 2000 wurden rund 60 Journalisten ermordet (http://bit.ly/145PpJz). Hunderte weitere erlebten Drohungen, Erpressung und Zensurversuche.

Ein Friedensschluss mit der größten Rebellengruppe wäre deshalb ein wichtiger Schritt zum Ende des gewaltsamen Konflikts, die seit Jahrzehnten den Nährboden für Zensur, Drohungen und Verbrechen gegen Medienschaffende bildet. "Nur wenn Journalisten ohne Furcht vor Gewalt und Repression berichten und kommentieren können, werden sie in der Lage sein, ihren Beitrag zur dringend nötigen gesellschaftlichen Debatte über die Verbrechen der Vergangenheit und die Folgen für die Zukunft Kolumbiens zu leisten", sagte Mihr.

Selbst nach einem Friedensschluss mit der FARC wäre nicht mit einem schlagartigen Ende der Gewalt zu rechnen: Von Paramilitärs, staatlichen Sicherheitskräften, Verbrecherkartellen und kleineren Rebellengruppen dürfte auch weiterhin eine erhebliche Gefahr gewaltsamer Übergriffe gegen Journalisten ausgehen. De zweitgrößte Rebellengruppe ELN etwa entführte noch im vergangenen Mai drei Journalisten (http://t1p.de/7e5z).

Auch der Friedensprozess als solcher hat Kolumbiens Journalisten bislang keine Erleichterung verschafft. So zählte der Kolumbianische Journalistenverband und ROG-Partner FECOLPER (Federación Colombiana de periodistas) allein im ersten Quartal dieses Jahres 76 Übergriffe und Behinderungen gegen die Arbeit von Journalisten - 80 Prozent der im gesamten Jahr 2015 registrierten Zahl von Fällen (http://t1p.de/5y8l). Besonders gefährdet seien zuletzt Journalisten gewesen, die über die Friedensverhandlungen berichteten. Häufigste Urheber der Drohungen und Angriffen waren laut FECOLPER, soweit sie identifiziert werden konnten, paramilitärische Gruppen, Verbrecherbanden und Staatsbeamte.

TRANSPARENZ ÜBER STAATLICHE WERBEETATS, FÖRDERUNG NICHTKOMMERZIELLER MEDIEN

Der zwischen Regierung und FARC ausgehandelte Friedensvertrag enthält in seiner bisherigen Form mehrere Punkte mit direkten Auswirkungen auf die Pressefreiheit. Dazu gehört die Zusage, auf allen staatlichen Ebenen Verfahren für eine transparente Vergabe öffentlicher Werbung zu schaffen (http://t1p.de/q3sz, S. 46). Die völlig unregulierte und intransparente Vergabe großer staatlicher Werbeetats durch zahlreiche Behörden - FECOLPER schätzt ihre Gesamthöhe auf mehr als 500 Milliarden Pesos (rund 150 Millionen Euro) - läuft bislang auf eine verdeckte Subventionierung von Medien hinaus, die oft zur Belohnung oder Bestrafung für die Berichterstattung eingesetzt wird (http://t1p.de/ie50).

Ausdrücklich würdigt das Abkommen die Rolle nichtkommerzieller Medien (medios comunitarios) wie der meist lokalen Radiosender, die in ländlichen Regionen eine wichtige Rolle für den sozialen Zusammenhalt und die Bewahrung der Kultur der indigenen Bevölkerung spielen und die bislang oft ohne Lizenz arbeiten müssen. Für sie sollen neuen Zulassungsverfahren eröffnet und Schulungsangebote für ihre Mitarbeiter geschaffen werden (http://t1p.de/q3sz, S. 40 f.).

Zur Förderung der demokratischen Kultur sieht der Friedensvertrag die Einrichtung eines öffentlichen Fernsehsenders vor, der als Plattform zur Vorstellung der Programme von politischen Parteien, sozialen Bewegungen und Organisationen dienen soll (http://t1p.de/q3sz, S. 49).

ÜBERGANGSJUSTIZ MUSS HOHEN STRAFEN NICHT ENTGEGENSTEHEN

Zu den umstrittensten Punkten gehören die Regelungen zur Übergangsjustiz: Für Farc-Kämpfer, die ihre Vergehen gestehen, sieht der Vertrag moderate Strafen wie Sozialdienst und fünf- bis achtjährige Einschränkungen der Freiheit vor, bei nicht geständigen Tätern Freiheitsbeschränkungen zwischen 15 und 20 Jahren. Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen bezeichnet der Vertrag ausdrücklich als nicht amnestierbar.

Dass vergleichbare Regelungen hohen Strafen im Einzelfall nicht entgegenstehen müssen, zeigt ein aktueller Fall, in dem zwei Paramilitärs gemäß den Regelungen eines unter dem früheren Präsidenten Alvaro Uribe verabschiedeten "Gesetzes über Gerechtigkeit und Frieden" verurteilt wurden. Weil sie widersprüchliche, offensichtlich unwahre Angaben zur Entführung, Folterung und Vergewaltigung der Journalistin Jineth Bedoya im Jahr 2000 (http://t1p.de/69zs) machten, verweigerte ihnen das zuständige Gericht in Bogota einen Strafnachlass (http://t1p.de/2abr).

Nach jahrelangem Kampf Bedoyas um eine Aufarbeitung durch die Justiz waren die beiden Männer Ende März zu 28 Jahren bzw. 11 Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt worden (http://t1p.de/f9hv). Einer der Verurteilten will nun das Verfassungsgericht anrufen. Viele ihrer mutmaßlichen Mittäter sind für die Verbrechen an der Journalisten bis heute nicht vor ein Gericht gebracht worden.

UNZUREICHENDER SCHUTZ FÜR JOURNALISTEN, STARKE MEDIENKONZENTRATION

Wegen des andauernd hohen Niveaus der Gewalt gegen Journalisten hat der kolumbianische Staat schon vor geraumer Zeit ein Programm zum Schutz Betroffener aufgelegt. Zu seinem 15-jährigen Bestehen legten ROG, FECOLPER und FLIP vergangenes Jahr eine Reihe von Reformvorschlägen vor (http://t1p.de/ftqs). In zwei ausführlichen Untersuchungen kamen die Organisationen zu dem Ergebnis, dass das Programm ineffektiv und mangelhaft ist und an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigeht. So wurden bei 388 Drohungen gegen Journalisten, die das Justizministerium zwischen dem Jahr 2000 und Mitte August 2014 registrierte, nur in einem einzigen Fall die Verantwortlichen verhaftet.

Zu den vielen Problemen des Schutzprogramms gehören unzureichende finanzielle Mittel, Korruption, Fehlentscheidungen, Probleme bei der Einschätzung von Gefährdungen und bei der Wahl geeigneter Gegenmaßnahmen sowie sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerungen. Auch konzentriert sich das Programm zu einseitig auf Schutz und sicheres Geleit für die Betroffenen, ohne sich auch für Gewaltvorbeugung sowie für eine effektivere juristische Verfolgung der Drohungen und Angriffe gegen Journalisten einzusetzen.

Ein weiteres Hindernis für die Pressefreiheit in Kolumbien ist die starke Besitzkonzentration der Medien, die Interessenkonflikte und Selbstzensur begünstigt und die Meinungsvielfalt behindert (http://t1p.de/vgss): Drei Konzerne kontrollieren durch eine Vielzahl von Publikationen und Sendern 57 Prozent des Markts für Printmedien, Fernsehen und Radio. Unter den überregionalen Medien entfallen zwei Drittel der Leser auf nur vier Zeitungen. Die beiden größten Fernsehsender machen mehr als zwei Drittel des TV-Markts unter sich aus und erwirtschaften rund 78 Prozent der gesamten TV-Werbeeinnahmen. Dies zeigen die Ergebnisse des Projekts Media Ownership Monitor (http://t1p.de/wwlt), die ROG und FECOLPER im Herbst 2015 vorstellten.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Kolumbien auf Platz 134 von 180 Staaten. Weitere Informationen zur Lage der Journalisten in dem Land finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/kolumbien/.

WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN:

- Media Ownership Monitor Kolumbien: www.reporter-ohne-grenzen.de/ themen/media-ownership-monitor/projektlaender/kolumbien/ (Spanische Projektwebsite: www.monitoreodemedios.co) - Bericht "Actividad periodística en riesgo" (ROG und FECOLPER, nur auf Spanisch): http://t1p.de/aewp - Bericht "15 años de protección a periodistas en Colombia: esquivando la violencia sin justicia" (FLIP, nur auf Spanisch): http://t1p.de/svw1

Quelle: Reporter ohne Grenzen e.V. (ots)

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