Bundestag will türkische Massaker an Armeniern "Völkermord" nennen
Archivmeldung vom 20.04.2015
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.04.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Manuel SchmidtDer Bundestag will die Massaker an den Armeniern vor hundert Jahren in der Türkei am nächsten Freitag nun doch als "Völkermord" bezeichnen. An einer entsprechenden Formulierung werde derzeit in der Koalition gearbeitet, sagte der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Franz Josef Jung (CDU) der "Saarbrücker Zeitung".
Bisher hatte die Koalition den Begriff im Resolutionsentwurf auf Druck der Bundesregierung nur in der Begründung verwendet, nun soll er Jung zufolge in den Haupttext rücken. "Wir werden jetzt eine Formulierung finden, die die Tatsache des Völkermordes, der in der Türkei vor 100 Jahren stattgefunden hat, auch mit Namen nennt."
Der Text werde mit der Bundesregierung abgestimmt. Jung wies mögliche Proteste der türkischen Regierung zurück: "Wenn man eine Situation so beschreibt, wie sie war, dann ist das keine Provokation." Geschichtliche Aufarbeitung sei ein Beitrag zur Versöhnung. "Wir wollen, dass die Blockade der letzten Jahre überwunden wird und es zwischen Armeniern und der Türkei wieder zu einem Versöhnungsprozess kommt."
Jung rechnet damit, dass auch Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag bei seiner Rede das Wort "Völkermord" für die Geschehnisse verwenden wird. "Alle Erkenntnisse, die ich habe, sprechen dafür, dass es so sein wird", sagte der Unions-Politiker.
Steinmeier: Das Wort vom Völkermord ist verständlich
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) geht in der Debatte über die Bewertung der türkischen Gräueltaten an den Armenien vor hundert Jahren auf die Kritiker im Bundestag zu. Der SPD-Politiker sagte der "Süddeutschen Zeitung", die Berichte über die damalige Gewalt und Grausamkeit, über die Unbegreiflichkeit des Schreckens würden einem auch heute noch buchstäblich die Sprache verschlagen.
"Man kann das, was damals geschehen ist, in dem Begriff des Völkermords zusammenfassen wollen, und ich kann die Gründe dafür und erst recht die Gefühle dazu gut verstehen", betonte der Außenminister. Damit räumt er den Bundestagsabgeordneten, die den damaligen Völkermord in einem Entschließungsantrag des Bundestags am Freitag dieser Woche auch als Völkermord bezeichnen wollen, mehr Freiheiten ein. Bislang hatte das Auswärtige Amt stets die Auffassung vertreten, der Begriff sollte auf keinen Fall in einem entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen auftauchen.
Steinmeier und die Bundesregierung waren vorige Woche allerdings immer stärker unter Druck gekommen. Mehr und mehr Bundestagsabgeordnete, auch aus den Regierungsfraktionen, hatten sich offen aufgelehnt und eine klare Benennung des Völkermords gefordert. Offenbar soll das nun geäußerte Verständnis Steinmeiers für diese Position die Wogen glätten und eine drohende Niederlage der Regierung im Streit um das Wort verhindern. Der teilweise Kursschwenk geht dabei nach Informationen der SZ auch auf Abstimmungen mit dem Bundespräsidialamt zurück.
Hintergrund ist, dass Bundespräsident Joachim Gauck am kommenden Donnerstag, also am Abend vor der Abstimmung über den Antrag im Bundestag, zum gleichen Thema sprechen wird. Eingeladen von den beiden christlichen Kirchen, die am Donnerstag gemeinsam mit der armenischen Kirche dezidiert "des Völkermords" gedenken wollen, wird Gauck also selbst zur Debatte über den Genozid Stellung nehmen. Es zeichne sich ab, dass er dem Begriff nicht ausweichen werde, so die Zeitung.
Käßmann: Massaker an Armeniern muss Völkermord genannt werden
Im Streit um die Einstufung der Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord fordert die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, Klartext zu sprechen: "Wir können doch nur aus der Geschichte lernen, wenn wir Völkermord auch Völkermord nennen", schreibt Käßmann in "Bild am Sonntag".
Zur Begründung verwies sie auf die Aufarbeitung der Holocaust-Verbrechen. "Als Deutsche haben wir schließlich auch gelernt, dass die Ermordung von Millionen Juden Völkermord war, wir tiefe Schuld auf uns geladen haben. Und dieser Lernprozess hat die große Mehrheit im Land sehr sensibel gemacht für Menschenrechte, die Frage von Krieg und Frieden. Dafür können wir dankbar sein. So ist es gut, dass in der Türkei selbst sich Stimmen regen, den Völkermord an den Armeniern als Teil der eigenen Geschichte anzusehen."
Unionspolitiker wollen Verbrechen an Armeniern als Völkermord bezeichnen
Im Streit über das Gedenken an die Verbrechen an den Armeniern vor 100 Jahren im Osmanischen Reich kritisieren führende Unionspolitiker die Vermeidung des Begriffs Völkermord durch die Bundesregierung und fordern dessen Verwendung in einem Bundestagsantrag der Koalitionsfraktionen. "Der Tod Hunderttausender Armenier in der Endphase des Osmanischen Reiches war weder Unfall noch Zufall, sondern Völkermord", sagte die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner der "Welt am Sonntag". "Auch wenn es diplomatisch unklug sein mag und wir in Deutschland aufgrund unserer Geschichte anderen nicht überheblich ihre Geschichte vorhalten sollten, können wir dennoch das Kind beim Namen nennen", fügte Klöckner hinzu.
Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestages, Michael Brand (CDU), plädierte dafür, dass der Bundestag sich notfalls über die Sprachregelung der Bundesregierung hinwegsetzen solle: "Das Parlament ist nicht der Sprecher der Regierung und natürlich kann das Parlament in solchen Fragen in guter Weise deutliche und richtige Signale senden", sagte Brand der "Welt am Sonntag".
Nach Ansicht von Brand wäre es "ein Armutszeugnis, wenn es beim Thema Genozid statt Mut zur Wahrheit etwa Feigheit vor dem Freund gäbe". CDU-Bundesvize Armin Laschet nahm in diesem Zusammenhang Papst Franziskus, der am vergangenen Sonntag die Verbrechen an den Armeniern als Völkermord bezeichnet hatte, gegen die heftige Kritik in Schutz, die von der türkischen Regierung an dieser Wortwahl geübt worden war. "Der Papst hat Recht", sagte Laschet der "Welt am Sonntag" und nannte es "unfassbar, dass die Türkei als einziges Land auf der Welt ausgerechnet Franziskus vorwirft, Hass und Feindschaft zu säen".
Der Armenien-Berichterstatter der Unionsfraktion im Bundestag, Christoph Bergner (CDU), kündigte an, sich für die Verwendung des Begriffs Völkermord in dem Entschließungsantrag des Bundestages einzusetzen. "Am Dienstag werde ich in der Fraktion dafür eintreten, dass der Begriff Völkermord in den Antrag aufgenommen wird", sagte Bergner. Zwar "verstehe" er es, wenn Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) "um angemessene Formulierungen" ringe. Aber "die Beweise, dass es sich um einen Genozid handelt", so Bergner, "liegen in den Archiven des Auswärtigen Amts." Er wolle nicht, "dass die Dimension der Ereignisse verniedlicht wird".
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir appellierte an die Union, sich in dieser Frage keinesfalls von der Türkei einschüchtern zu lassen, sondern die Partei des Papstes zu ergreifen. Özdemir sagte der "Welt am Sonntag", Papst Franziskus habe "klare und richtige Worte zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren gefunden" und sei dafür vom türkischen Ministerpräsidenten "unflätig angegriffen worden". Nun müsse es sich die Union "gut überlegen, auf welcher Seite sie in dieser historischen Debatte steht". "Ich glaube nicht, dass die Partei Konrad Adenauers und Helmut Kohls an die Seite von Völkermordleugnern gehört."
Quelle: dts Nachrichtenagentur