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Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki für Gespräche mit dem Iran

Archivmeldung vom 23.08.2021

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.08.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Wolfgang Kubicki (2019)
Wolfgang Kubicki (2019)

Foto: Olaf Kosinsky
Lizenz: CC BY-SA 3.0 de
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Der Bundestagsvizepräsident und stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki wirft der Bundesregierung in der Afghanistan-Politik "Versagen erster Ordnung" vor. "Die Afghanistan-Politik ist eine komplette Katastrophe - nicht nur der deutschen Außenpolitik, sondern vor allen Dingen auch des Vertrauens in das, was wir den Afghanen 20 Jahren lang versprochen haben, nämlich zur ,Nation Building', also Nationsbildung beizutragen", sagte Kubicki der "Berliner Morgenpost" (Sonntag-Ausgabe 22. August 2021).

Man habe die Demokratie nach Afghanistan bringen wollen, doch "das ist komplett gescheitert". Die Evakuierung, um die Deutschen und Ortskräfte in Sicherheit zu bringen, sei "eine Katastrophe", so Kubicki. "Die Tatsache, dass es so spät geschieht, ist ein Versagen erster Ordnung."

Die Bundestagsvizepräsident sprach sich für eine pragmatischere Politik aus: "Wir müssen von unserer bisher hoch moralischen Position, die wir weltweit einnehmen, wieder übergehen zu einer pragmatischen Politik. Man muss im Zweifel auch mit Despoten reden, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen." Die westliche Staatengemeinschaft, deren Teil Deutschland sei, müsse auch mit den Mullahs in Teheran (Iran) reden. "Denn überwiegend der Iran und Pakistan werden jetzt mit der Flüchtlingsfrage aus Afghanistan konfrontiert. Wenn wir wollen, dass diese Länder die Flüchtlinge auffangen, müssen wir mit ihnen sprechen", sagte Kubicki.

Die entsprechenden Passagen des Interviews mit der "Berliner Morgenpost" im Wortlaut:

Herr Kubicki, wir haben - nach den persönlichen Fehlern der Spitzenkandidaten, nach der Flut - jetzt mit Afghanistan das nächste Wahlkampfthema. Was angesichts von Afghanistan passiert ist, ist das Staatsversagen?

Wolfgang Kubicki: Wir erleben in vielfältiger Weise, dass Menschen zu Recht ein Staatsversagen beklagen, sowohl rund um die Ereignisse in Afghanistan, als auch in vielen anderen großen Politikfeldern. Nehmen wir zum Beispiel das Thema der Bekämpfung der Pandemie. Mittlerweile äußern sich auch Wissenschaftler zur Frage, warum wir in den vergangenen 18 Monaten keine ordentliche Datenerhebung gemacht haben, um genau zu wissen, wo wir zielgenau ansetzen müssen, um mit der Pandemie fertig zu werden. Wir haben Staatsversagen bei der Flutkatastrophe - nicht nur, was die Warnung der Bevölkerung angeht, sondern nach wie vor fühlen sich die Menschen alleingelassen. Viele freiwillige Helfer sind vor Ort, aber das, was man an staatlicher Hilfe erwartet, gibt es nur unzureichend. Die Afghanistan-Politik ist eine komplette Katastrophe - nicht nur der deutschen Außenpolitik, sondern vor allen Dingen auch des Vertrauens in das, was wir den Afghanen 20 Jahren lang versprochen haben, nämlich zur "Nation Building", also Nationsbildung beizutragen. Ich war völlig überrascht davon, dass der amerikanische Präsident Joe Biden jetzt erklärt hat, Nation Building sei nie der Auftrag, nie die Mission gewesen, sondern es sei immer nur die Mission gewesen, Terroranschläge von Afghanistan aus zu verhindern. Zeitgleich hat die Bundeskanzlerin erklärt, Auftrag der Deutschen sei gewesen, Nationsbildung zu betreiben. Wir wollten doch die Demokratie nach Afghanistan bringen. Das ist komplett gescheitert. Und was wir jetzt erleben bei der Evakuierung von Deutschen und auch von Ortskräften, ist eine Katastrophe. Ohne unsere amerikanischen Freunde wären wir gar nicht in der Lage gewesen, die Evakuierung zu organisieren. Die Tatsache, dass es so spät geschieht, ist ein Versagen erster Ordnung.

Ist das Thema "Nation Building" mit Blick auf Mali und andere Einsatzorte damit gescheitert?

Kubicki: Zumindest muss man erkennen, dass es nicht automatisch der richtige Ansatz ist - weder in Syrien, dem Irak oder Mali. Wir müssen begreifen, dass wir anderen Völkern in anderen Ländern nichts aufbürden dürfen, was sie selbst nicht wollen. Insofern hat Joe Biden ja recht: Warum sollen amerikanische Töchter und Söhne sterben, wenn die Afghanen selbst nicht bereit sind, für ihr Land zu kämpfen? Das gilt aber überall. Wir müssen von unserer bisher hoch moralischen Position, die wir weltweit einnehmen, wieder übergehen zu einer pragmatischen Politik. Man muss im Zweifel auch mit Despoten reden, um zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Wenn wir die heutige moralische Position schon in den 70er-Jahren eingenommen hätten, hätten wir niemals die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die OSZE bekommen. Die westliche Staatengemeinschaft, deren Teil wir sind, muss auch mit den Mullahs in Teheran reden. Denn überwiegend der Iran und Pakistan werden jetzt mit der Flüchtlingsfrage aus Afghanistan konfrontiert. Wenn wir wollen, dass diese Länder die Flüchtlinge auffangen, müssen wir mit ihnen sprechen. Wir müssen diesen pragmatischen Schritt gehen oder es fällt uns dieses moralische Überlegenheitsgefühl erneut auf die Füße.

In fünf Wochen findet die Bundestagswahl statt. Wenn das nicht so wäre, würden Sie jetzt den Rücktritt von Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer fordern?

Kubicki: Ich habe die Rücktritte schon gefordert, weil ansonsten das Prinzip der konsequenten Verantwortungslosigkeit mit der Behauptung "Wir übernehmen Verantwortung" Einzug in die deutsche Politik halten würde. Aber es ist ja nicht nur ein Versagen von Kramp-Karrenbauer und Maas, auch Bundesinnenminister Horst Seehofer und das Bundeskanzleramt haben versagt. Für die Aufsicht über die Geheimdienste ist nämlich das Bundeskanzleramt zuständig. Da muss man sich schon fragen, wofür geben wir für unsere Geheimdienste Milliardenbeträge aus.

Müssen wir die afghanischen Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen?

Kubicki: Die Idee der Flüchtlingskonvention ist, dass Flüchtlinge meist in den Nachbarländern bleiben und dass sie deshalb, wenn sich die Kriegslage, die wir in Afghanistan gar nicht haben, stabilisiert hat, dann wieder in ihr Heimatland zurückkehren. Allerdings fehlt mir die Fantasie, wie man den Menschen, die vor 20 Jahren geboren worden und in Afghanistan aufgewachsen sind, die Frauenrechte kennen, zur Schule gegangen sind und studiert haben, nun erklären soll, dass sie die nächsten 20 oder 30 Jahre ihres Lebens unter dem Taliban-Regime zubringen sollen. Meinen Sie, dass die Menschen mit Optimismus in Afghanistan bleiben oder zurückkehren? Eine Menge Menschen in Afghanistan ist wirklich bedroht. Wir haben deshalb zunächst eine Verpflichtung, alle diejenigen, die bedroht sind, aus dem Land zu bringen. Und wir müssen auch mit den Taliban reden. Und selbstverständlich müssen wir all jene, die für Deutschland und deutsche Stellen gearbeitet haben, schützen. Es geht um 10.000 bis 12.000 Menschen, die wir in Gefahr gebracht haben, und jetzt sind wir verantwortlich dafür, dass die Gefahr minimiert wird. Das ist eine absolute Verpflichtung, nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich. Ich glaube nicht, dass die Menschen im Iran oder in Pakistan bleiben, denn dort sind sie nicht willkommen. Pakistan baut schon Stacheldrahtzäune. Die Flüchtlinge aus Afghanistan werden sich auf den Weg machen - wir würden uns auch auf den Marsch machen, wenn wir in unserem Land keine Lebensperspektive hätten.

Wird das Thema die Wahl entscheiden?

Kubicki: Nein. Afghanistan wird die Wahl beeinflussen, aber nicht entscheiden. Andere Themen wie die Klima-Krise oder die Bewältigung der Corona-Krise spielen auch eine große Rolle. Warum können wir in der Pandemie etwa nicht so vorgehen wie Dänemark? Die Dänen haben alles wieder geöffnet, nachdem sie alle Menschen über 50 Jahre, die es wollten, geimpft haben, denn das sind die Altersgruppen, die schwerere Verläufe haben und höherer Wahrscheinlichkeit auch an Corona sterben. Aber bei allen anderen verläuft die Krankheit, wenn die Menschen überhaupt Symptome haben, weniger stark. Und damit belasten diese Menschen unser Gesundheitssystem nicht - diese Überlastung zu verhindern, war aber immer das erklärte Ziel der Bundesregierung. Dänemark hat also alle Maßnahmen aufgehoben. Wann ist das bei uns der Fall? Obwohl ich seit Monaten nachfrage, gibt es von der Regierung keine Antwort. Und selbstverständlich wird bei der Wahl die Frage eine Rolle spielen: Wie gehen wir mit dem Klimawandel um? Wie bekämpfen wir den Temperaturanstieg oder wie vermindern wir die CO2-Emissionen? Und vor allen Dingen: Wie können wir unter diesen Bedingungen den Wohlstand dieses Landes sichern? Denn eines kann ich sicher sagen: Die Menschen werden nicht bereit sein, über längere Zeit zu verzichten, Askese zu üben. Deshalb ist technischer Fortschritt viel wichtiger als die permanenten moralischen Appelle an die Verantwortung der Menschen, die Welt zu retten.

Quelle: BERLINER MORGENPOST (ots)

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