Guantanamo-Verhandlungen mit den Nazi-Prozessen von Nürnberg als Vorbild
Archivmeldung vom 22.09.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakDie US-Regierung versucht im Prozess gegen Guantanamo-Häftlinge ein ähnliches Mittel einzusetzen, wie bei den Nazi-Prozessen von Nürnberg im Jahre 1945: Den Geschworenen soll vor den Verhandlungen ein Dokumentarfilm gezeigt werden, in diesem Fall einer über al-Qaida. Der Dokumentarfilm von 1945 enthielt Nazi-Propaganda.
80 Minuten lang ist der siebenteilige Streifen, 20.000 Dollar hat die US-Regierung für seine Produktion ausgegeben. Man sieht darin verkohlte Leichen, gesprengte Autos, schreiende Opfer, ein angegriffenes US-Militärschiff. Man sieht Flugzeuge in das World Trade Center stürzen. Man hört Ausschnitte aus Ansprachen Osama Bin Ladens.
Es ist ein Film über das Terrornetzwerk al-Qaida - fast vollständig montiert aus Videomaterial, das Osama Bin Ladens Medienabteilung selbst hergestellt und verbreitet hat.
Also ein Dokumentarfilm.
Oder doch nicht?
Ganz einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. Denn auch wenn der Film die Regeln dieses Genres auf den ersten Blick nicht verletzt, ist es alles anderes als ein neutraler Film.
Der Film ist in den Guantanamo-Tribunalen gegen mutmaßliche Qaida-Terroristen so etwas wie ein Zeuge der Anklage. Er soll helfen, Urteile herbeizuführen. Das gibt sogar der Auftraggeber zu: "Er ist vorverurteilend, und das ist der Grund, aus dem wir ihn zeigen", zitiert die "Los Angeles Times" den Chefankläger, Oberst Lawrence Morris. "Ich glaube, die Menschen denken, dass Vorverurteilung irgendwie falsch ist."
Filmpremiere im Gerichtssaal
Bisher ist der Film den Geschworenen (genau wie Richter und Ankläger sind sie US-Soldaten) erst einmal gezeigt worden: Im Prozess gegen den Chauffeur Osama Bin Ladens, Salim Hamdan. Dass keines der in dem Film gezeigten Verbrechen Hamdan zur Last gelegt wurde, thematisierte die Verteidigung zwar; es überzeugte aber den Richter nicht.
Bei der einmaligen Vorführung - von der Zeugen aus den Reihen der NGO sich übrigens geschockt zeigten - wird es aber nicht bleiben. Auch in künftigen Tribunalen in Guantanamo wird der Film eingesetzt werden, hat die Anklage bereits angekündigt.
Doch die Macht der Bilder ist nicht der alleinige Grund, warum die Anklage den Film in Auftrag gegeben hat. Wie aus freigegebenen Pentagon-Akten hervorgeht, gab es von Beginn an ein weiteres Ziel: Es sollte eine Parallele gezogen werden zwischen der Beweisführung in den Verfahren gegen die Nazi-Kriegsverbrecher, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg stattfanden, und den Tribunalen auf dem US-Militärstützpunkt auf Kuba.
Das historische Vorbild für den Film ist "Der Nazi-Plan", ein Film, der weitestgehend aus Ausschnitten der Nazi-Propaganda zusammengeschnitten worden war und den Geschworenen in Nürnberg gezeigt wurde. Gut drei Millionen Meter Filmmaterial hatte der US-Soldat Budd Schulenberg damals zwischen Juni und November 1945 gesichtet und daraus ausgewählt.
Der nun vom Pentagon in Auftrag gegebene Film, heißt es denn auch in einem zu den Akten gegebenen Dokument der Anklage vom 15. Februar 2008, sei "diesem Modell nachempfunden". Die Unterschiede seien minimal, die Gemeinsamkeiten überwältigend. Da zudem die Regeln für die Beweisaufnahme in Nürnberg und Guantanamo nahezu identisch seien, beantragte sie, dass der Film in das Verfahren eingeführt wird.
Nürnberg soll auf Guantanamo abfärben
Die Anklage begründete die Notwendigkeit für den Film unter anderem damit, dass sie vor einem ähnlichen Problem stünde wie die Ankläger in Nürnberg - nämlich einen sehr langen Zeitraum abbilden zu müssen, innerhalb dessen die zu verhandelnden Verbrechen ersonnen, geplant und durchgeführt wurden. Der Guantanamo-Film deckt einen Zeitraum vom Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 bis zum 11. September 2001 ab.
Es sei nicht praktikabel, so die Argumentation, jeden einzelnen Film aus dieser Zeit, jedes einzelne Qaida-Kommuniqué einzeln durchzugehen. Der Film soll also quasi eine Orientierung bieten und etwa beweisen, dass es eine Verschwörung al-Qaidas gegen die USA gibt, dass diese sich als im Krieg gegen die USA befindlich sehen und dass al-Qaida Kriegsverbrechen begeht.
Aber im Subtext wird klar, dass es nicht nur um ein praktisches Problem geht. Es geht auch darum, etwas vom Nimbus der Nürnberger Prozesse, die bis heute ein Sinnbild gegen Siegerjustiz und für internationale Gerechtigkeitssuche sind, nach Guantanamo zu übertragen. Denn die Tribunale auf Kuba sind sehr umstritten. Sie basieren auf Spezialgesetzen und umgehen in den USA selbstverständliche Rechtsstandards. (Der US-Militärstützpunkt liegt technisch gesehen nicht in den USA.)
Wie erpicht die Anklage darauf ist, ihre Arbeit in die Tradition der Nürnberger Prozesse zu stellen, wird zum Beispiel an einem weiteren Detail deutlich: Sie taufte den Film um.
Der Auftrag, den Film zu machen, ging an den Terrorexperten Evan Kohlmann. Und der lieferte sein Produkt mit dem Arbeitstitel "The Rise of al-Qaeda" ab, "Der Aufstieg al-Qaidas".
Doch daraus wurde schnell "The al-Qaeda Plan", wie Kohlmann im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE berichtet: "Nachdem das Office for the Military Commissions den Film angesehen hatte, schlugen sie eine Änderung des Titels vor. Nicht aus substantiellen Gründen, sondern um den Präzedenzfall, der in den Nürnberger Prozessen geschaffen worden war, so genau wie möglich nachzuahmen. Ich hatte dagegen keine spezifischen Einwände und erklärte mich mit ihrer Bitte einverstanden."
In fast keinem Artikel in den großen US-Zeitungen über den Hamdan-Prozess fehlte ein Verweis auf den Film, seinen Titel und die Parallele zu den Nürnberger Prozessen. Vermutlich lag genau das im Kalkül der Anklage. Sie äußerte sich allerdings nicht dazu. Anfragen von SPIEGEL ONLINE wurden abschlägig beschieden.
Eine reine Auftragsarbeit?
Doch während einige Parallelen zwischen Nürnberg und Guantanamo tatsächlich nicht von der Hand zu weisen sind, zum Beispiel die Notwendigkeit, ein praktisch eigenes Recht für die Verfahren zu schaffen, auf dessen Grundlage dann geurteilt wurde, werden Unterschiede durch die Betonung der Gemeinsamkeiten natürlich vermischt.
So wurden die Nazi-Verbrecher beispielsweise in der Zeit ihrer Haft nicht Folter oder zumindest folterähnlichen Praktiken ausgesetzt.
Sahr Mohammed Ally von der Organisation "Human Rights First", die selbst anwesend war, als der Film das erste Mal in Guantanamo ausgestrahlt wurde, moniert zudem, dass der Film, trotz aller scheinbaren Neutralität, in zwei Punkten allzu nah an der Linie der US-Regierung bleibe. So spare er aus, dass die USA einen Teil der Kämpfer, die in Afghanistan gegen die Sowjetunion in die Schlacht zogen, unterstützte. (Der erste Teil des Films befasst sich mit den Mudschahidin im Kampf gegen die Russen.) Und der Film folge außerdem der Regierungsinterpretation, dass es schon vor dem 11. September 2001 einen Kriegszustand zwischen al-Qaida und den USA gegeben habe. Diese Feststellung ist deshalb gewichtig, weil Angeklagte nur unter dieser Maßgabe gegen das Kriegsrecht verstoßen haben können.
Kritiker sehen es keineswegs als zufällig an, dass Kohlmann den Auftrag für den Film bekam. Blogger von "Spinwatch" haben in einem langen Eintrag zusammengetragen, wie Kohlmann schon in vielen anderen Verfahren als Sachverständiger Filme aus seinem Qaida-Archiv gezeigt hat, um die Brutalität des Terrornetzwerks zu verdeutlichen. In Großbritannien spielte er Enthauptungen vor, obwohl es in dem Fall nicht im Entferntesten darum ging.
Zudem, so die Blogger, sei Kohlmann akademisch nicht ausreichend qualifiziert. Er habe keinen einzigen Aufsatz verfasst, der wissenschaftlichen Standards genüge. Diese Kritik teilen auch Terrorexperten, die an Universitäten tätig sind, aber in diesem Zusammenhang nicht genannt werden wollen. Das Tribunal unterminiere seine eigene Glaubwürdigkeit mit Kohlmann als Zeugen, sagte einer von ihnen SPIEGEL ONLINE.
Und was ist mit Hitlers Chauffeur?
Ganz so einfach ist es allerdings auch in dieser Hinsicht nicht. Denn auch wenn Kohlmann in Gerichtssälen schon peinliche Patzer unterlaufen sind, steht außer Frage, dass er zumindest über ein außergewöhnlich großes Archiv voller Qaida-Dokumente und -Videos verfügt. Er hat zudem ein Buch über Mudschahidin in den Balkan-Kriegen geschrieben, das als Standardwerk gilt.
Die US-Regierung steht jedenfalls fest zu Kohlmann, sein Lebenslauf, seine bisherigen Tätigkeiten und Gutachterstationen werden in den Akten ausführlich referiert. Er sei ohne jeden Zweifel kompetent, sowohl das Material einzuschätzen, aus dem er den Film produziert hat, als auch in allen anderen Fragen von Belang.
Und der Film, so die Anklage weiter, sei zudem "weniger vorverurteilend" als "The Nazi Plan".
Das sehen einige Bürgerrechtler anders - wie überhaupt das gesamte Prozedere in dem US-Stützpunkt. Nach dem Hamdan-Prozess, in dem Bin Ladens Chauffeur zu fünfeinhalb Jahren verurteilt wurde, schrieb etwa Sahr Mohammed Ally sarkastisch, Hitlers Fahrer sei nicht verurteilt worden.
Das stimmt. Erich Kempka war in Nürnberg nur als Zeuge anwesend.