Bundeswehr stellte schon 2011 "erheblichen Mangel" am Standardgewehr G36 fest
Archivmeldung vom 16.09.2013
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 16.09.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Bundeswehr hatte bereits 2011 einen "erheblichen Mangel" am Sturmgewehr G36 festgestellt. Das geht aus einem, als Verschlusssache eingestuften Schreiben hervor, das dem ARD-Politikmagazin "Report Mainz" des Südwestrundfunks exklusiv vorliegt.
Das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung meldete als Ergebnis von "Untersuchungen beanstandeter Infanteriewaffen", das G36 zeige "nach einer Belastung von 90 Schuss in kurzer Zeit (Dauerfeuer/schnelles Einzelfeuer) eine stark nachlassende Präzision." Die für die Erprobung und den Kauf verantwortlichen Beamten warnten am 2. Dezember 2011: Die Ergebnisse "erscheinen aus hiesiger Sicht einen erheblichen Mangel anzuzeigen. Demnach weist das G36 nach der oben genannten Belastung von 90 Schuss einen Streukreis von 50 bis 60 cm auf eine Zielentfernung von 100 m auf. Hier ist die Frage zu stellen, inwieweit ein Soldat in einem Feuergefecht mit heißgeschossener Waffe überhaupt noch treffen kann." Das Bundesamt ordnete dem Schreiben zufolge "mit höchster Priorität" weitere Untersuchungen am G36 an. Auch die bislang unveröffentlichten Ergebnisse dieser Untersuchung vom 6. Dezember 2011 liegen "Report Mainz" exklusiv vor. Darin heißt es: "Nach einer relativ geringen Schusszahl erhöht sich die Streuung erheblich."
Das Bundesverteidigungsministerium hatte dagegen am 12. Dezember 2012 dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (B'90 / Die Grünen) auf Anfrage mitgeteilt: "Es wurde kein Mangel am Gewehr G36 festgestellt. (...) Das Sturmgewehr G36 ist zuverlässig und auch weiterhin tauglich für die Erfordernisse der Bundeswehr im Ausbildungsbetrieb und in den laufenden Einsätzen." Hans-Christian Ströbele erklärte dazu in "Report Mainz": "Jetzt sehe ich: Ich bin reingelegt worden und ich fühle mich auch belogen. Wozu stelle ich an die Bundesregierung eine Anfrage, wenn mir nachher was Falsches gesagt wird? Das ist ganz eindeutig die Unwahrheit und man muss ja davon ausgehen, dass es auch bewusst die Unwahrheit ist."
Das Bundesverteidigungsministerium schrieb "Report Mainz" auf Anfrage zum G36: "Es ist bei bestimmungsgemäßem Gebrauch handhabungs-, funktions-, betriebs- und treffsicher." Der Soldat solle dauerhaftes Schnellfeuer vermeiden, damit das G36 nicht zu heiß und damit ungenau werde, erklärte ein Ministeriumssprecher. Diese Argumentation kritisiert Hellmut Königshaus, der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags. Im Interview sagte er auf die Frage: Kann der Soldat denn darauf verzichten, schnell viel zu schießen? "Das kann er natürlich im konkreten Einsatz vorher nicht wissen. Und wenn gesagt wird, das ist ein Gewehr, mit dem kein Schnellfeuer gegeben werden soll, dann muss ich Ihnen aber sagen: Da gibt es aber den Hebel und im konkreten Einsatz kann es eben sein, dass er das tun muss."
Das G36 kann mit einem Hebel von Einzelfeuer auf Schnellfeuer umgestellt werden. Das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch hatte die Bundeswehr bis April 2012 mit insgesamt 180.000 G36 Gewehren beliefert. Erst vor kurzem beauftragte das Verteidigungsministerium Heckler & Koch mit einer weiteren G36 Lieferung. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt in diesem Zusammenhang wegen Untreue gegen einen Mitarbeiter der Bundeswehr. Heckler & Koch schreibt auf der Firmenhomepage: "In über 10 Jahren Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist Heckler & Koch keine einzige Beschwerde der kämpfenden Truppe im Bezug auf die Treffleistung des Gewehrs G36 im heißgeschossenen Zustand bekannt geworden. Nach Kenntnis von Heckler & Koch sind auch innerhalb der Bundeswehr diesbezüglich keine Beschwerden der kämpfenden Truppe bekannt geworden." Rechtsanwälte der Firma Heckler & Koch erklärten auf Anfrage von "Report Mainz": "Bei einem Dauerfeuer mit mehreren 100 Schuss innerhalb weniger Minuten wird im wahrsten Sinn des Wortes jedes Sturmgewehr 'zerschossen' mit der Folge der von Ihnen angesprochenen zunehmenden Streuung."
Der unabhängige Waffensachverständige Dieter Plößl entgegnet darauf in "Report Mainz", ein heißgeschossenes G36 streue sogar noch stärker als die alten Kalaschnikov-Gewehre der Taliban. Selbst wenn das G36 wieder kalt ist, schieße es weit neben das Ziel und müsse wieder neu justiert werden. Wörtlich sagte Plößl: "Eine Verlagerung in dieser Größenordnung würde bei einer zivilen Waffe auf keinen Fall akzeptiert werden. Ich würde diese Waffe als bedingt einsatzfähig betrachten. Wenn ich Verteidigungsminister wäre, hätte ich Angst, Soldaten in einen so unkontrollierbaren Einsatz mit dieser Waffe zu schicken."
Quelle: SWR - Das Erste (ots)