Richard Sennett über seine amerikanischen Landsleute: "Monster sind sie nicht. In Wahrheit sind sie Kinder"
Archivmeldung vom 14.09.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer in London lebende amerikanische Soziologe Richard Sennett hat nach seiner Rückkehr nach Amerika einen "Kulturschock" erlitten, sagt er der ZEIT. Er sei verblüfft darüber, wie seine Landsleute mit der Hurrikan-Katastrophe umgehen. Für die schwarzen Amerikaner bedeute die Katastrophe von New Orleans die Auffrischung einer alten Erfahrung. Sennet: "Es wurde ihnen wieder bewusst, dass sie in der amerikanischen Gesellschaft im weitesten Sinne unsichtbar sind.
Die Schwarzen dringen ins Bewusstsein der
Masse nur vor, wenn Dinge falsch laufen, wenn Katastrophen und
Verbrechen geschehen. Die Diskussionen um 'Rassenfragen' in New
Orleans drehen sich stets um die Probleme, die diese armen Schwarzen
machen." Deshalb habe die amerikanische Presse "die relativ
geringfügigen Szenen des Plünderns, die Schüsse auf
Rettungsmannschaften zum Symbol des Desasters erhoben".
Das Urproblem der Amerikaner bestehe laut Sennett darin, die
Realität zu akzeptieren. Das gelte auch für den Irak-Krieg: "Ganz
langsam ist in das Bewusstsein der amerikanischen Bevölkerung
eingedrungen, was für ein Desaster der Irak-Krieg gewesen ist. Es hat
zwei Jahre gedauert, bis die Leute das begriffen haben." Der
Soziologe: "Dazu passt, dass man nicht in eine Infrastruktur der
Sicherheit, nicht in Hilfs- und Rettungsmaßnahmen investiert - sei es
in New Orleans, sei es in Kalifornien. Die Fantasie ist: Somehow
we'll master it! Irgendwie kriegen wir's hin." Seine Landsleute seien
nicht bösartig, sie seien nur in der Mehrheit ignorant. "Monster sind
sie nicht. In Wahrheit sind sie Kinder. Kinder, die mit der Welt der
Erwachsenen konfrontiert werden."
Richard Sennett, der seit zehn Jahren in London lebt und lehrt,
hat soeben eine Gastprofessur am Massachusetts Institute of
Technology (MIT) angetreten.
Quelle: Pressemitteilung DIE ZEIT