Diestel: Merkel-Besuch bei Birthler-Behörde ein "falsches Signal"
Archivmeldung vom 15.01.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer im ersten und letzten demokratischen DDR-Kabinett von Lothar de Maizière als Innenminister amtierende Peter-Michael Diestel (CDU) hält den heutigen Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Zentrale der Stasi-Unterlagen-Behörde für "ein falsches Signal" im 20. Jubiläumsjahr nach der Wende.
"Ich bin es satt, 45 Jahre DDR mit ihrer durchaus kritikwürdigen diktatorischen Geschichte auf das Thema Stasi zu reduzieren", meinte Diestel in einem Interview mit der "Leipziger Volkszeitung" (Donnerstag-Ausgabe). In Diestels Amtszeit fielen wichtigste Entscheidungen zum Umgang mit den Stasi-Akten. Zumal sich im Akten-Bestand die wichtigsten Drahtzieher nicht mehr wiederfänden, sondern nur "der kleine, schwule, korrupte Friseur, oder der Bäcker oder der Pastor, der unter Druck gesetzt werden konnte und der so in die Fänge der Staatssicherheit geriet".
Diestel verwies darauf, dass die Stasi juristisch gesehen "keine kriminelle Vereinigung" gewesen sei. "Es gab Menschen, die sich kriminell verhalten haben. Ich weiß, dass führende Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit einen hervorragenden Beitrag geleistet haben beim Aufbau der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung vor allem in Ostdeutschland", so Diestel. "Ich will keine Namen nennen, weil ich kein Denunziant bin."
Diestel verwies in dem Interview auf die seiner Ansicht nach gezielt von der Stasi selbst aussortierte und politisch gemeinte Hinterlassenschaft in Akten-Form. Als im April 1990 das Kabinett von Lothar de Maizière angefangen habe, "hatten die Nachfolgestrukturen von Honecker und Krenz fast ein drei Viertel Jahr Zeit, dieser irgendwann kommenden demokratischen neu gewählten DDR-Regierung Unterlagen zu übergeben", sagte Diestel. "Diese Zeit haben die genutzt. Den Bürgerkomitees wurde nur das übergeben, was man übergeben wollte. Man hat seine eigenen Leute geschützt durch zielgerichtetes Aussortieren von Akten. Man kann heute fast sagen: Wen die Staatssicherheit ans Messer liefern wollte, dessen Unterlagen hat sie übergeben." Wen sie "im Herzen getragen" habe, dessen Unterlagen seien während der Wende beiseite geschafft worden. "Der nachrichtendienstlich bedeutendste Teil wurde vernichtet, ausgegliedert und ehemals befreundeten Geheimdiensten übergeben. Die Gauck-, beziehungsweise die Birthler-Behörde war von vornherein ein stumpfes Schwert."
Nach Diestels Ansicht wäre es "richtig gewesen", hätte man nach der Wende die Stasi-Akten gleich vernichtet, so wie dies Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble auch vergeblich vorgeschlagen hätten. "Schäuble und Kohl wussten, dass das, was an Akten-Material noch vorhanden war, nicht repräsentativ war. Alles das, was bundesdeutsche, österreichische und sonstige Politiker betrifft, ist weg gewesen", meinte Diestel. "Im Bestand geblieben ist der kleine, schwule, korrupte Friseur, oder der Bäcker oder der Pastor, der unter Druck gesetzt werden konnte und der so in die Fänge der Staatssicherheit geriet. Der wurde nach der Wende erbarmungslos rasiert und hingerichtet. Die Wichtigen, die Großen, die Hauptamtlichen in den Konzernen, in den bundesdeutschen Politikzentren, die kommen vor Lachen nicht in den Schlaf. Und das haben natürlich Schäuble und Kohl damals gewusst."
Die von ihm sehr geschätzte Angela Merkel habe in dieser Hinsicht "einen politischen Betrachtungsfehler", meinte Diestel. "Trotz ihrer brachialen Intelligenz hat das wohl etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun. Hier ist eine junge, kluge, außerordentlich normale ostdeutsche Frau, die sich völlig normal und völlig anständig und zweckmäßig verhalten und die nach der Wende eine normale Entwicklung genommen hat. Ich möchte, dass diese normale Entwicklung auch für jeden anderen anständigen Menschen 20 Jahre nach dieser gesellschaftlichen Umwerfung gangbar sein muss." Es müsse möglich sein, dass die Staatssicherheit nicht die strafrechtlichen Verjährungsfristen außer Kraft setze. "Das halte ich für rechtsstaatswidrig." Nur Mord habe eine höhere Verjährungsfrist. "Aber wir reden nicht über Straftaten, sondern wir reden über Menschen, die in Konfliktsituationen in einer grausamen Diktatur in die Nähe der Staatssicherheit gerückt worden sind", sagte Diestel.
Quelle: Leipziger Volkszeitung