Thorsten Latzel: "Ich bin immer ein Grenzgänger gewesen"
Archivmeldung vom 17.03.2021
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićDr. Thorsten Latzel (50) wird am Samstag, 20. März, als neuer Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland eingeführt. Den Festgottesdienst in der Düsseldorfer Johanneskirche überträgt das WDR-Fernsehen von 11 bis 12 Uhr. Drei Fragen an den Neuen an der Spitze von rund 2,4 Millionen Protestantinnen und Protestanten zwischen Niederrhein und Saarland.
Herr Latzel, nach Ihrer Wahl haben Sie Ihre Frau per Video mit dem Satz gegrüßt: „Annette, du kannst schon mal die Koffer vom Schrank runterholen.“ Sitzen Sie inzwischen auf den gepackten Koffern?
Thorsten Latzel: Wir suchen im Augenblick ein Haus oder eine Wohnung in Düsseldorf. Die Koffer sind also schon unten, aber noch nicht gepackt, weil wir noch nicht wissen, wohin wir mit ihnen umziehen können.
Sie sind der erste Präses, der die rheinische Kirche nicht von innen kennt. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Latzel: Erst einmal, dass ich eine faszinierende und beeindruckende Kirche neu kennenlernen darf. Zugleich bedeutet es, dass ich von außen eigene Perspektiven einbringen kann, hoffentlich zum Wohl unserer Kirche. In meiner bisherigen Biografie bin ich immer ein Grenzgänger gewesen. Und die rheinische Kirche zeichnet sich ja durch eine hohe Gastfreundlichkeit aus. Das hilft mir beim Ankommen.
Ihr Vorgänger Manfred Rekowski hat sich öffentlich immer wieder deutlich in der Flüchtlingsfrage positioniert. Welche Themensetzungen haben Sie sich vorgenommen?
Latzel: Das Flüchtlingsthema bleibt uns natürlich weiter erhalten. Für das Grundrecht auf Asyl einzutreten, zählt zu den Grundhaltungen der rheinischen Kirche. Daneben stehen für mich zunächst drei Themen an. Erstens wollen wir den Menschen in dieser sehr belastenden Zeit der Pandemie geistlich Hoffnung geben. Und das meint etwas anderes als Optimismus. Wir glauben als Christen, dass Gott der Grund unserer Hoffnung ist und die Dinge zum Guten führen wird, auch wenn äußerlich alles dagegenspricht. Zweites wichtiges Thema ist die Frage, was nach der Pandemie kommt. Mir ist wichtig, dass wir uns als rheinische Kirche für eine menschenfreundliche, ökologische, faire und solidarische Lebensweise einsetzen. Und zum Dritten wollen wir uns als Kirche weiter stark um den Kontakt zu unseren Mitgliedern bemühen.
Wie wollen Sie dem Eindruck entgegentreten, dass die Kirche an öffentlicher Relevanz und Wahrnehmbarkeit verliert?
Latzel: Die Relevanz der evangelischen Kirche ruht letztlich in der Kraft des Evangeliums. Und wir können sie entfalten, indem wir so von Gott sprechen, dass es andere Menschen berührt und sie spüren: Das bedeutet etwas für mein eigenes Leben. Den protestantischen Glauben zeichnet eine Haltung aus, die von innerer Freiheit und Wagemut bestimmt ist. Daher können wir das Evangelium auch offen in die großen Fragen unserer Zeit einbringen. Als Kirche haben wir Hoffnungsperspektiven, an denen es unserer Gesellschaft an so vielen Stellen mangelt.
Ein Grund, warum Menschen sich von der Kirche abwenden, sind die Kirchensteuern. Was halten Sie dem entgegen?
Latzel: Studien zeigen, dass die Kirchensteuer nie der alleinige Grund für einen Austritt ist, sondern es geht immer um Bindungsverlust. Jeder einzelne Austritt schmerzt mich. Mir ist es wichtig, dass wir in Kontakt mit den Menschen treten, um ihnen zu zeigen, dass wir für sie da sind, egal wo sie im Leben stehen. Ich wünsche mir, dass wir anderen überzeugend vermitteln, was wir Sinnvolles in der Kirche machen: dass wir Menschen helfen, die in Not sind, dass wir uns für Bildung und eine offene Gesellschaft einsetzen und dass wir Räume für die Seele bieten, in denen Menschen immer wieder auftanken können.
Auch sexualisierte Gewalt ist ein gewichtiger Grund der Entfremdung. In dieser Woche blicken zwar alle nach Köln. Aber tut die rheinische Kirche genug für Prävention und die Aufarbeitung der Vergangenheit?
Latzel: Dass Menschen sexualisierte Gewalt erleben müssen, ist schrecklich, und wir setzen alles daran, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Das gilt speziell im Raum der Kirche, in dem es um Sorge für die Seele geht. Darum arbeiten wir schon seit Jahren intensiv an unserer Prävention und schulen derzeit alle haupt-, neben- und ehrenamtlich Mitarbeitenden. Mehr als 2500 Menschen haben diese Schulungen bisher durchlaufen. Außerdem bieten wir Betroffenen finanzielle und beratende Unterstützung über unsere Ansprechstelle an und haben zudem eine juristische Meldestelle eingerichtet für die verpflichtende Meldung von Verdachtsfällen. Ein einheitliches Verfahren im Umgang mit sexualisierter Gewalt gibt es bereits seit 2003, das wurde im vergangenen Jahr noch einmal verschärft. Wir stehen an der Seite der Betroffenen und gehen gegen Täterinnen und Täter mit allen disziplinar- und strafrechtlichen Mitteln vor. Zugleich arbeiten wir daran, die Geschichte der alten Fälle aufzuarbeiten. Das ist nicht einfach, weil die evangelische Kirche sehr dezentral aufgebaut ist. Hier suchen wir gezielt den Kontakt zu Betroffenen.
Ihnen steht vielleicht stärker als all Ihren Vorgängern der kirchliche Umbau bevor. Haben Sie eine Vorstellung, in welche Richtung er erfolgen soll?
Latzel: Die rheinische Kirche wird auch in Zukunft eine weltoffene Kirche sein. Wir werden den Kontakt zu Menschen verschiedenster Herkunft pflegen und uns nicht nur auf uns selbst zurückziehen. Wir werden die Orientierung an unseren Mitgliedern weiter stärken. Wir werden exemplarischer arbeiten als früher und nicht mehr an allen Stellen alles vorhalten können. Aber dort, wo wir etwas tun, werden wir es qualitativ hochwertig tun. Wir werden unsere Anstrengungen in den Bereichen Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie und Bildung fortsetzen, um Menschen auf ihrem Weg bestmöglich zu begleiten. Und wir werden neue Wege gehen etwa im Bereich der sozialen Medien. Die Gestalt der künftigen Kirche wird eine andere sein als die der 70er, 80er oder 90er Jahre. Aber es wird eine starke rheinische Kirche geben, die wir so gestalten, dass Menschen in ihr gut arbeiten und sich engagieren können und dabei nicht ausbrennen.
Sie waren zuletzt Akademie-Leiter in Frankfurt. Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, dass viele akademisch-theologische Fragestellungen in der Kirche außerhalb von ihr überhaupt nicht mehr verstanden werden?
Latzel: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Wir müssen sicher an manchen Stellen anders sprechen. Aber nehmen Sie zum Beispiel den angestaubten Begriff der Sünde. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, oder sie selbst eigentlich ganz anders leben wollten. Die Frage ist, was uns den Halt gibt, mit den Ambivalenzen und Fehlern unseres eigenen Lebens umgehen zu können. Dazu haben wir starke Geschichten und eine Botschaft, die frei macht. Wir bringen Gott ins Spiel. Das weitet und erhellt den Blick in einer Gegenwart, die aus den Fugen geraten ist und sich ständig in der Krise erlebt. Es ist etwa sehr bereichernd, theologische Perspektiven bei der Frage einzubringen, wie unsere Wirtschaft, die Digitalisierung oder der medizinische Umgang mit den Grenzen des Lebens zukünftig gestaltet werden sollten.
Welches ökumenische Verständnis haben Sie: mehr streiten oder mehr versöhnen?
Latzel: Es braucht beides: einen liebenden Streit um die Wahrheit und eine versöhnte Verschiedenheit. Unser Problem ist nicht die Verschiedenheit der Konfessionen. Wir haben ja auch vier Evangelien in der Bibel. Die Frage ist, ob die Unterschiede uns voneinander trennen oder ob wir Vielfalt als Schatz begreifen. Die Zukunft der Kirche wird eine ökumenische sein, in der wir noch stärker kooperieren werden: bei Gebäuden, Seelsorge oder Religionsunterricht.
Was kann die rheinische Kirche gegen den wachsenden Antisemitismus tun?
Latzel: Der Antisemitismus erfährt gerade in der Corona-Zeit eine hoch problematische Koppelung mit Verschwörungstheorien und es ist eine Schande, dass es so etwas in Deutschland gibt. Ich sehe es als Gnade an, dass Menschen jüdischen Glaubens nach der Shoah weiter hier leben. Dieses Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat sich mit der Anerkennung der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes sehr klar positioniert. Und wir werden auch in Zukunft alles dafür tun, dass Antisemitismus, ganz gleich, aus welchem Lager er kommt, keinen Platz in Deutschland hat. Jüdisches Leben gehört selbstverständlich zu unserem Land.
Nirgendwo in Deutschland leben so viele Muslime wie in Nordrhein-Westfalen. Wie stellen Sie sich das interreligiöse Miteinander vor?
Latzel: Die Religionsfreiheit ist prägend für unser Land. Dafür treten wir als rheinische Kirche ein und das gilt selbstverständlich auch für die Menschen muslimischen Glaubens. Wir unterstützen die freie Religionsausübung und die Möglichkeit eines islamischen Religionsunterrichts. Gleichzeitig sind wir im Gespräch darüber, wie unsere beiden Religionen zu einer demokratischen und offenen Gesellschaft beitragen können. Es ist immer wichtig, miteinander zu reden statt übereinander, und ich freue mich, die guten Kontakte zu den muslimischen Gemeinden auch in Zukunft zu pflegen.
Bleiben Sie bei Ihrer ablehnenden Haltung zum assistierten Suizid?
Latzel: Dass wir diese Diskussion jetzt sowohl innerhalb unserer Kirche als auch in der Gesellschaft insgesamt führen, ist gut. Es liegen mehrere Gesetzesvorlagen vor, die auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts reagieren. Mir ist wichtig, dass wir als Kirchen unseren Beitrag leisten, um zu einer guten Lösung zu kommen. Die Frage lässt sich aber nicht auf den assistierten Suizid verkürzen, sondern es geht darum, die Herausforderungen an den Grenzen des menschlichen Lebens sensibel wahrzunehmen. Was brauchen sterbende Menschen, was ihre Angehörigen, was die Ärzte und Arztinnen und das Pflegepersonal? Unsere Aufgabe als Kirche ist es, Menschen beim Sterben und nicht zum Sterben zu begleiten. Wir respektieren, wenn Einzelne einen anderen Weg für sich wählen, aber wir als Diakonie und Kirche werden uns nicht für den assistierten Suizid einsetzen.
Wenn Sie Ihren Glauben in einem Satz formulieren müssten, welcher wäre das?
Latzel: Mein evangelischer Glaube lässt mich wagemutig leben, weil ich weiß, dass ich im Letzten gehalten bin und so mein eigenes Leben liebend für andere einsetzen kann.
Quelle: Evangelische Kirche im Rheinland (ots)