Überwacht auf Verdacht
Archivmeldung vom 16.03.2005
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Freigeschaltet durch Michael DahlkeIn Niedersachen und Thüringen darf die Polizei Telefon- und Internetverbindungen unbescholtener Bürger überwachen, auch wenn nur der Verdacht besteht, jemand könnte ein Verbrechen begehen wollen.
Bayern möchte das ebenfalls zulassen. Nun verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit einer solche "präventiven Überwachung".
Verbrechen vorzubeugen ist ein berechtigtes Anliegen.
Aber sollte es der Polizei auch erlaubt sein, abzuhören und zu überwachen, wer mit wem wann wie lange telefoniert hat, welche SMS Verbindung gewählt oder welche Verbindung im Internet benutzt wurde, wenn lediglich der Verdacht besteht, jemand könnte einmal ein Mörder, Räuber und Betrüger werden?
Niedersachen und Thüringen haben diese Frage bereits mit Ja beantwortet.
Dort dürfen auch bislang unbescholtene Bürger abgehört werden, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, jemand könnte in der Zukunft ein Verbrechen begehen – und die Überwachung kann sogar „Kontakt- und Begleitpersonen“ der Verdächtigen betreffen.
Und auch Bayern plant, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden.
Zwar muss ein Richter die Maßnahme genehmigen, doch zeigen mehrere Untersuchungen, dass Anträge auf Telefonüberwachung bisher oft genug nur durchgewunken wurden.
Außerdem geht es nicht um den guten alten Anfangsverdacht - jene Hürde, die der Staatsanwalt zur Aufnahme von Ermittlungen überwinden muss.
Bevor der Staatsanwalt einschreitet, muss schon etwas passiert sein: Es gibt eine Leiche, eine ausgeraubte Bank, einen Wirtschaftsbetrug. Dass es zu einem Verbrechen kommen könnte, reicht hier nicht.
Verletzung des Fernmeldegeheimnisses Ein Oldenburger Richter hat jedoch eine Verfassungsbeschwerde gegen die Ende 2003 in Niedersachen in Kraft getretene Abhörbefugnis eingereicht. Er sieht in der Regelung eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses.
Seit heute verhandelt nun das Bundesverfassungsgericht über dieses Musterexemplar einer neuen Präventionslogik.
Aus Sicht der Bundesregierung verletzen die Befugnisse der niedersächsischen und thüringischen Polizei das Gesetzgebungsrecht des Bundes.
Der Bund habe die Überwachung der Telekommunikation abschließend geregelt, womit keine Zuständigkeit der Länder mehr gegeben sei, sagte Innenstaatssekretärin Ute Vogt am Mittwoch vor dem Bundesverfassungsgericht.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar äußerte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung. Schaar kritisierte eine generelle Tendenz, Eingriffe in Grundrechte immer stärker ins Vorfeld von Straftaten zu verlagern.
Und wie der Deutsche Anwaltverein (DAV) erklärte, sei ein solches Gesetz zur Verhinderung von Straftaten nicht nötig. Bereits nach bisher geltendem Recht sei die Telekommunikationsüberwachung in einem sehr frühen Stadium möglich.
Niedersachsen muss mit Niederlage rechnen Tatsächlich muss Niedersachsen mit einer Schlappe vor dem Bundesverfassungsgericht rechnen.
Denn es ist wahrscheinlich, dass die Karlsruher Richter die diffusen niedersächsischen Vorfeldbefugnisse ziemlich kritisch betrachten werden - weil sie der Polizei im Grunde hellseherische Fähigkeiten abverlangen.
Das zeigt das Urteil des Ersten Senats zum Zollkriminalamt im letzten Jahr. Auch den Zollfahndern sollte eine durch Tatsachen gestützte Annahme genügen, um Telefone anzuzapfen.
Den Karlsruher Richtern erschien die Formulierung jedoch zu unbestimmt, um einen derart gravierenden Eingriff in das im Grundgesetz garantierte Fernmeldegeheimnis zu rechtfertigen - sie erklärten die Regelung für verfassungswidrig.
Die „Annahme“, jemand werde irgendwann Straftaten begehen, verlange von den Behörden „eine Prognose künftiger Entwicklungen, die sich in wesentlichen Teilen noch in der Vorstellungswelt des potenziellen Straftäters abspielen“, erklärten die Richter.
Jörg Kinzig vom Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht sieht zudem kein echtes Bedürfnis für eine vorbeugende Überwachung.
Wenn ein Anfangsverdacht gegen einen mutmaßlichen Straftäter bestehe - keine besonders hohe Schwelle -, dann könne die Maßnahme ohnehin nach den Regeln des normalen Strafprozessrechts angeordnet werde.
Hessen und Rheinland-Pfalz, die ebenfalls eine präventive Überwachung von Telefon und Internet eingeführt haben, hatten so etwas offenbar geahnt.
Sie haben die die Anwendung von vorn herein im Wesentlichen auf die verfassungsrechtlich unproblematischen Vermisstenfälle oder Entführungen beschränkt, bei denen es gilt, beispielsweise einen Suizidgefährdeten rechtzeitig zu finden.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/,tt4m2/deutschland/artikel/511/49462/