Berliner Richter Ohlsen unter Druck
Archivmeldung vom 01.11.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs geht vordergründig nur um Prozesskostenhilfe. Doch was das Oberlandesgericht Frankfurt/Main jetzt beschlossen hat, dürfte in der deutschen Justiz reichlich Aufmerksamkeit erregen. Das Gericht bescheinigt dem Berliner Richter Andreas Ohlsen, ein Teil eines von ihm verfassten und im Tagesspiegel abgedruckten Leserbriefes weise "eine erhebliche Nähe zu der Diktion nationalsozialistischer Propaganda" auf.
Ohlsen hatte in hartem Ton
die Androhung von Folter durch den Frankfurter Polizeivizepräsidenten
Wolfgang Daschner gegen Magnus Gäfgen gerechtfertigt, der als Mörder
des kleinen Jakob von Metzler eine lebenslange Haftstrafe verbüsst.
Der Richter am Berliner Landgericht schrieb unter vollem Namen,
Gäfgen sei ein "Unmensch, ein Nicht-Mensch und damit ein ,Niemand'".
Und "Niemand" dürfe, so Ohlsen, "bekanntlich der Folter unterzogen
werden". Der im Dezember 2004 veröffentlichte Brief des Richters rief
große Empörung hervor. Nun hält auch das Frankfurter
Oberlandesgericht die Wortwahl für extrem - und sieht "die gewählte
Begrifflichkeit des Nicht-Menschen" nahe am Jargon der Nazis.
Der Beschluss des in Kassel sitzenden 15. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Frankfurt stammt vom vergangenen Dienstag. Der
Senat gab der Beschwerde Gäfgens gegen einen Beschluss der 2.
Zivilkammer des Landgerichts Marburg statt, das den Antrag des
Mörders auf Prozesskostenhilfe abgewiesen hatte. Gäfgen geht mit
Hilfe seines Anwalts Michael O. Heuchemer juristisch gegen Ohlsen
vor. Der Kindesmörder sagt, er sei in der Haftanstalt nach Erscheinen
des Leserbriefes einer "Nicht-Mensch-Kampagne" ausgesetzt gewesen.
Mitgefangene hätten ihn bedroht und als "Unmensch" oder "Tier"
beschimpft. Im März dieses Jahres habe er bei dem Angriff eines
Häftlings mehrere Verletzungen erlitten.
Gäfgens Anwalt forderte Ohlsen auf, eine strafbewehrte
Unterlassungserklärung abzugeben. Der Richter tat es nicht. Nun
verlangt Gäfgen neben der Unterlassung auch eine Entschädigung in
Höhe von 10 000 Euro, die laut Anwalt Heuchemer einem wohltätigen
Zweck zugute kommen sollen. Um den Rechtsstreit mit Ohlsen finanziell
durchzuhalten, benötigt Gäfgen Prozesskostenhilfe. Das
Oberlandesgericht Frankfurt hat sie nun für die erste Instanz
bewilligt.
Der Beschluss dazu klingt in einigen Passagen fast schon wie ein
Hinweis an Ohlsen, sein Leserbrief könnte unangenehme Folgen haben.
Nach Ansicht des Oberlandesgerichts erscheint es durchaus möglich,
dass Gäfgens Klage gegen Ohlsen Erfolg haben könnte. Das
Oberlandesgericht will nicht ausschließen, dass der Leserbrief "eine
schwer wiegende Verletzung des unantastbaren Kerngehalts der
Menschenwürde" Gäfgens darstellt. Oder zumindest eine "schwer
wiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts" in Betracht
kommt. Damit "liegt nicht ohne weiteres auf der Hand", dass in einem
späteren Prozess der Meinungsfreiheit Ohlsens der Vorrang eingeräumt
wird. In einem Punkt verzichtet das Oberlandesgerichts allerdings auf
den Konjunktiv - als es den Begriff des "Nicht-Menschen" in die Nähe
der Nazi-Propaganda rückt.
Ohlsen, Richter an der 30. Zivilkammer des Berliner Landgerichts,
war am Montag für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Unklar
bleibt, ob die Berliner Justiz dem Leserbrief Konsequenzen folgen
lässt. Der Berliner Landgerichtspräsident Peter Joachim von Drenkmann
hatte noch im Dezember 2004 disziplinarrechtliche Ermittlungen gegen
Ohlsen eingeleitet, außerdem reichte die Berliner Anwältin Petra
Schlagenhauf eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Das
Disziplinarverfahren laufe noch, sagte am Dienstag Juliane
Baer-Henney, Sprecherin von Justizsenatorin Karin Schubert (SPD). Ob
nun der Beschluss des Frankfurter Oberlandesgerichts die Sache
beschleunigt, konnte Baer-Henney nicht sagen. In Justizkreisen hieß
es, so ein Disziplinarverfahren könne lange dauern.
Quelle: Pressemitteilung Der Tagesspiegel