Zustand vieler Straßen in Norddeutschland ist katastrophal
Archivmeldung vom 24.04.2018
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Freigeschaltet durch André OttViele Kreisstraßen im Norden sind kaputt. Das ergab eine Recherche des NDR Politikmagazins "Panorama 3". Rund 23 Prozent der Kreisstraßen in Norddeutschland befinden sich demnach in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Für die umfangreiche Datenerhebung wurden alle Kreise und kreisfreien Städte in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein abgefragt. Erstmals liegen damit Daten zu Kreisstraßen für ganz Norddeutschland vor.
Die zwei Landkreise mit den schlechtesten Straßen sind Stade und Rostock. Hier sind rund zwei Drittel der Straßen in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Der Landkreis Stade erklärt, dass "jahrelang im Grunde zu wenig Geld da war". Der Landkreis Rostock schreibt auf Anfrage, dass sie der Sanierungsstau von 170 Millionen Euro überlaste. Der Kreis mit den besten Straßen ist der Heidekreis - hier sind nur fünf Prozent der Straßen schlecht. Insgesamt sind nach "Panorama 3"-Recherche ungefähr 3100 Kilometer Kreisstraßen in einem schlechten Zustand. Prof. Berthold Best von der Technischen Hochschule Nürnberg beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Erhaltung kommunaler Straßen. Das Ergebnis der Recherche ist aus seiner Sicht "besonders besorgniserregend. Denn diese Straßen drohen kurzfristig in einen Zustand abzurutschen, der keine Erhaltungsmaßnahmen mehr zulässt, sondern der dazu führt, dass die Straßen erneuert werden müssen".
Noch dramatischer ist es bei den rund 1950 Kilometern Kreisstraßen im Norden, die in einem sehr schlechten Zustand sind. Prof. Berthold Best nimmt nach einer Einschätzung der vom NDR recherchierten Daten an, dass 3,9 Milliarden Euro nötig wären, um diese Straßen zu erneuern. Diese Summe müssten die Kreise zusätzlich aufbringen. Das dürfte den Kreisen "sehr schwerfallen", meint Prof. Best. Und das Ausmaß der kaputten Straßen ist wahrscheinlich noch viel größer: Denn rund ein Drittel aller Kreise und kreisfreien Städte haben keine genauen Daten zum Zustand ihrer Straßen geliefert. Bremen hat auf die Anfrage gar nicht geantwortet.
Viele Ämter scheinen mit der Betreuung der Kreisstraßen überfordert. Den zuständigen Kreisbauämtern fehlt es offenbar an Personal. Mehrere Kreise gaben auf Anfrage sogar an, sie hätten noch nie eine sogenannte Zustandserfassung und -bewertung (ZEB) ihrer Kreisstraßen durchgeführt, wie beispielsweise die Kreise Ammerland, Holzminden, Leer, Verden, Uelzen und Wesermarsch.
Zudem fehlt den Kreisbauämtern offenbar das nötige Geld. Viele Kreise investieren nur wenig Geld in ihr Straßennetz. So gibt der Landkreis Lüchow-Dannenberg gerade einmal 25 Cent pro Quadratmeter Straße aus. Laut Forschungsgesellschaft Straßen- und Verkehrswesen sind aber 1,10 Euro das absolute Minimum, das aufgewendet werden sollte, um ähnliche Straßen zu unterhalten.
Die Landesregierungen in Hannover, Schwerin und Kiel erklären auf "Panorama 3"-Anfrage, dass für die Instandhaltung der Kreisstraßen die Kreise zuständig seien. Denn in der Regel werden keine Instandhaltungen, sondern nur Neubaumaßnahmen mit Fördergeldern der Länder unterstützt. Das sei ein Fehler, sagt Prof. Best und fordert: "Wir müssen wegkommen von der Förderung nur von Neubaumaßnahmen hin zu einer Förderung der Straßenerhaltung auch mit Landesmitteln." In Schleswig-Holstein scheint bereits ein Umdenken einzusetzen. Dort gilt nun laut Wirtschaftsministerium die Vorgabe: "Erhalt vor Neubau". Seit 2015 würden den Kreisen dafür jährlich zusätzlich 11,5 Millionen Euro zu Verfügung gestellt. Aus der NDR Recherche geht zudem hervor, dass im Norden ungefähr 480 Brücken in einem schlechten baulichen Zustand sind. Laut Prof. Best besteht die Gefahr, dass sie in die schlechteste Kategorie abrutschen. Dann ist die Standsicherheit des Bauwerks gefährdet und sofortige Maßnahmen sind erforderlich. Ein Beispiel dafür ist die Brücke bei Cramon im Landkreis Nordwestmecklenburg. Sie ist, als eine der wenigen Brücken im Norden, seit zwölf Jahren für den Verkehr gesperrt.
Im Rahmen der Recherche wurden Daten zu fünf Straßenkategorien von sehr gut bis sehr schlecht erfragt. Schlechte und sehr schlechte Straßen wurden zu allen Kreisstraßen in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ins Verhältnis gesetzt. Nicht beachtet wurden dabei die nicht vergleichbaren Daten der kreisfreien Städte. Denn diese sind meist auch für Bundes- und Landesstraßen auf ihrem Gebiet zuständig.
Die Kreise überprüfen den Zustand ihrer Straßen mittels einer regelmäßigen Zustandserfassung und Bewertung (ZEB). Dieses Verfahren gilt als Standard, bei dem mithilfe von Kameras der Straßenzustand digital erfasst und in Zustandswerte (Kategorien) von "sehr gut" (Kategorie 1, Zustandswert 1,0-1,5) bis "sehr schlecht" (Kategorie 5, Zustandswert: 4,5-5,0) eingeteilt wird. Ein schlechter Zustand einer Straße (Kategorie 4) bedeutet, dass innerhalb kürzester Zeit Erhaltungsmaßnahmen durchgeführt werden müssten. Die nötigen Pläne dafür sollten bereits vorliegen. Für Straßen in einem sehr schlechten Zustand (Kategorie 5) gilt: sofortiger Handlungsbedarf oder eine beschränkte Nutzung der Straße bis hin zu einer kompletten Schließung.
Alle Ergebnisse: https://www.NDR.de/fernsehen/sendungen/panorama3/panorama8350.pdf Reihenfolge Kreise - nach Kilometer-Angaben hochgerechnet:
https://www.NDR.de/fernsehen/sendungen/panorama3/panorama8352.pdf
Hintergrund zu Niedersachsen
Auf die Länge aller Kreisstraßen bezogen, liegt in Niedersachsen der Anteil der schlechten oder sehr schlechten Straßen bei rund 20,5 Prozent im norddeutschen Durchschnitt. In Niedersachsen weisen die Landkreise Stade (76% der Straßen sind schlecht oder sehr schlecht), Goslar (64%) und Friesland (52%) die schlechtesten Straßen auf. Beim Landkreis Stade bezieht sich der Wert auf alle Straßenkilometer, die vom ZEB-Verfahren erfasst wurden. Die Kreise mit den wenigsten schlechten Straßen sind der Heidekreis (5%) und der Landkreis Osnabrück (8,6%).
38 Prozent der Kreise und kreisfreien Städte haben keine Zustandsdaten bezogen auf einzelne Straßenkategorien geliefert. Sechs Landkreise (Ammerland, Holzminden, Leer, Verden, Uelzen, Wesermarsch) haben noch nie eine Zustandserfassung und Bewertung ihres Kreisstraßennetzes durchgeführt.
Die meisten Kreise und kreisfreien Städte betreuen ihre Kreisstraßen selbst. Nach Auskunft der Kreise überlassen zwölf von ihnen das Management ihrer Kreisstraßen der niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr.
Hintergrund zu Schleswig-Holstein
In Schleswig-Holstein schneidet der Landkreis Stormarn (50%) mit dem Zustand seiner Kreisstraßen am schlechtesten ab. Am Besten steht der Landkreis Nordfriesland (18,9%) da.
Aus Schleswig-Holstein haben nur rund die Hälfte der Landkreise und kreisfreien Städte Angaben zu Zustandswerten gemacht. In einigen Landkreisen wurden offenbar Erfassungen aus dem vergangenen Jahr noch nicht abschließend ausgewertet.
Besonders augenfällig ist die Situation in Lübeck und Neumünster. In Lübeck sind aktuell keine Zustandswerte zu ermitteln. Die bisherigen sind "veraltet". Eine Datenbank kann aus Personalmangel nicht fortgeführt werden, so die Stadt auf Anfrage. In Neumünster ist auf einer Länge von 118 km der "Fahrbahnzustand in absehbarer Zeit abgängig." Für rund 36 km gilt "sofortiger Sanierungsbedarf." Daten nach ZEB-Kategorien geordnet, konnte Neumünster allerdings nicht liefern.
Der Landkreis Segeberg hat statt fünf nur Angaben zu vier Kategorien gemacht. Die Angaben wurden entsprechend angepasst. In Schleswig-Holstein hat bisher nur der Landkreis Herzogtum Lauenburg keine Zustandserfassung und Bewertung seiner Kreisstraßen durchgeführt.
In Schleswig-Holstein kümmert sich der Landesbetrieb Straßenbau und Verkehr in sieben Fällen im Auftrag der Kreise um deren Straßen. Die restlichen Kommunen kümmern sich selbst um ihre Straßen.
Hintergrund zu Mecklenburg-Vorpommern
In Mecklenburg-Vorpommern schneidet der Landkreis Rostock mit dem Zustand seiner Kreisstraßen landesweit am schlechtesten ab. Von 617 Kilometern Kreisstraßen sind rund 70 Prozent in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Es folgt der Landkreis Ludwigslust-Parchim (45%). Der Landkreis Rostock hat seine Zustandsdaten für Straßen in nur vier Kategorien eingeteilt. Kategorie 4 bildet dabei die schlechteste Kategorie.
Verglichen mit allen anderen norddeutschen Bundesländern sind die Kreisstraßen im Nordosten am schlechtesten. Hier sind rund 33 Prozent der Straßen schlecht oder sehr schlecht.
Beispielhaft beläuft sich der Investitionsstau bei den eigenen Kreisstraßen nach Angaben des Landkreises Nordwestmecklenburg auf eine Summe von rund 100 Millionen Euro.
Hintergrund zu Hamburg
In Hamburg sind rund 34 Prozent der ausgewerteten Bezirksstraßen in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Gemessen an den ausgewerteten Kilometern schneidet der Bezirk Eimsbüttel am schlechtesten ab. Hier sind fast 67 Prozent der Bezirksstraßen in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Dagegen sind im Bezirk Bergedorf nur 47 Prozent der Straßen in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand.
Allerdings haben von den sieben Bezirken die Bezirke Mitte und Altona keine Zustandsdaten geliefert. In Bergedorf und Harburg wurden große Teile des Netzes, die mit Kopfstein gepflastert sind, von der Zustandserfassung nicht beachtet. Im Bezirk Wandsbek umfassen die Daten auch etwa 110 km Straßen, die keine Bezirksstraßen sind. Eine getrennte Angabe nur zu Bezirksstraßen ist dem Bezirk aber nicht möglich.
Die Wirtschaftsbehörde gibt auf "Panorama 3"-Anfrage an, dass seit dem Regierungswechsel 2011 "sehr erfolgreich" an einem Abbau des Sanierungsstaus auf den Hamburger Straßen gearbeitet würde. Man werde mit dem "Sanierungsprogramm erreichen, dass der Verfall aller Straßen aufgehalten wird." Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren die Mittel, die den Bezirken für den Unterhalt zur Verfügung gestellt werden, erhöht worden.
Quelle: NDR Norddeutscher Rundfunk (ots)