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"Brain drain" aus Ostdeutschland

Archivmeldung vom 04.11.2006

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 04.11.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Wanderungssalden: Zwischen 1991 und 2005 verringerte sich die Bevölkerung in den neuen Ländern und Berlin um ca. 1,4 Mio. Einwohner. Grafik: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Wanderungssalden: Zwischen 1991 und 2005 verringerte sich die Bevölkerung in den neuen Ländern und Berlin um ca. 1,4 Mio. Einwohner. Grafik: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ostdeutschland verliert stetig an Bevölkerung. Zwei Drittel des Verlustes sind einer Abwanderung in die alten Bundesländer geschuldet. Unter anderem zeigt sich: Fast die Hälfte der aus Sachsen-Anhalt Abgewanderten kann sich eine Rückkehr vorstellen - wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen.

Hauptwanderungsströme der Westwanderung. Grafik: Leibniz-Institut für Länderkunde / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Hauptwanderungsströme der Westwanderung. Grafik: Leibniz-Institut für Länderkunde / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Um 1,4 Millionen Einwohner schrumpften die fünf neuen Bundesländer und Berlin seit 1990 - ein Großteil ist durch die Abwanderung nach Westdeutschland zu erklären. In der ostdeutschen Bevölkerung wird die Ost-West-Wanderung in erster Linie mit Besorgnis aufgenommen. Gerade in ländlichen Regionen führt sie zur Entleerung ganzer Landstriche. Von wirtschaftspolitischer Seite wird befürchtet, dass durch die Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen ein Defizit an Fachkräften entsteht und dadurch eigene Potenziale für die wirtschaftliche Entwicklung verloren gehen.

Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird die Abwanderung junger und qualifizierter Personen häufig als "brain drain" bezeichnet. Dieser Begriff wird immer dann verwendet, wenn einem Land oder einer Region durch Abwanderung Wissen und Qualifikationen, so genanntes Humankapital, verloren gehen. Aus der internationalen Arbeitskräftemigration ist bekannt, dass ein "brain drain" unter bestimmten Bedingungen langfristig durchaus positive Effekte im Herkunftsgebiet nach sich ziehen kann, wenn durch Netzwerke, Kapitaltransfers oder bestenfalls Rückwanderung der Migranten positive regionalökonomische Impulse freigesetzt werden.

Zum "brain drain" aus Ostdeutschland läuft bis September 2007 ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Projektleiter ist Prof. Dr. Klaus Friedrich, Professor für Sozialgeographie. Projektbearbeiterin ist die Diplom-Geographin Andrea Schultz. Die Wissenschaftler untersuchen, was den Wanderungsstrom maßgeblich verursacht und welche Auswirkungen Wanderungen in der ersten Phase des Erwerbsverlaufs auf die Akteure haben. In einem zweiten Schritt werden sie der Frage nachgehen, welche regionalökonomischen Konsequenzen die Ost-West-Migration für die Herkunftsgebiete hat. Dabei wird auch gefragt, ob die Abwanderung als zirkulierende Mobilität gedeutet werden kann, die künftig durch Rückwanderung der Migranten vermehrtes Wissen zurückbringt und dadurch der ostdeutschen Wirtschaft nützt. Erste Ergebnisse liegen nun vor.

So können sich 47 Prozent der aus Sachsen-Anhalt Abgewanderten vorstellen, hierher zurückzukehren, für weitere 17 Prozent der 1200 Befragten kommt dies "vielleicht" in Frage. "In Verbindung mit anderen Faktoren wie Kontaktnetzwerken mit der Heimat und der Integration in der Zielregion lässt sich feststellen, dass vor allem jene, die auch in Sachsen-Anhalt geboren wurden, die höchste Rückkehrbereitschaft zeigen", berichtet Projektbearbeiterin Andrea Schultz. "Auch verfügen die potenziell Rückkehrwilligen über ein relativ hohes Bildungsniveau."

Die vorläufigen Ergebnisse verdeutlichen, dass die Migranten bereits dadurch, dass sie in Westdeutschland eine berufliche Perspektive finden, ihre überregionale Konkurrenzfähigkeit unter Beweis stellen. "Dies ist auch als Qualitätsmerkmal einer Region zu werten", konstatiert Andrea Schultz. Durch die Migration könnten die Akteure ihre Qualifikationen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weiter steigern. Zudem gebe es Anzeichen dafür, dass es langfristig gelingen könnte, über Faktoren wie regionale Verbundenheit und Heimatgefühl Rückwanderung zu initiieren. Die tatsächliche Entscheidung zur Rückkehr werde jedoch von ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig gemacht. Das Land Sachsen-Anhalt besitze bei seinen ehemaligen Einwohnern keinen Bonus, wenn es um Lohn- und Gehaltsvorstellungen geht.

"Weil Mobilität ein elementarer Faktor in der individuellen Wissensaneignung ist, sollten aus unserer Sicht Handlungsstrategien nicht in Maßnahmen zur Minderung von Mobilität münden", so Geographin Schultz. "Vielmehr erscheint es sinnvoll, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Zu- oder Rückwanderung fördern. In diesem Sinne ist Abwanderung auf der individuellen Ebene in erster Linie positiv zu bewerten und sinnvoller als das Verbleiben in der Region. Auch aus regionalpolitischer Sicht überwiegen die Vorteile für Ostdeutschland im Falle einer zukünftigen Rückwanderung."

Die Konsequenzen der Abwanderung zu diskutieren, mögliche Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, optimale Handlungsstrategien zu entwickeln, dazu soll ein Workshop im Rahmen des DFG-Projekts dienen. Am 9. und 10. November werden ca. 60 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Vertreter politischer Institutionen sowie Raum- und Regionalplaner in Halle zusammenkommen. Der Workshop wird vom Institut für Geowissenschaften der Martin-Luther-Universität in Kooperation mit dem Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Sachsen-Anhalt ausgerichtet.

Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.

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