"Brain drain" aus Ostdeutschland
Archivmeldung vom 04.11.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittOstdeutschland verliert stetig an Bevölkerung. Zwei Drittel des Verlustes sind einer Abwanderung in die alten Bundesländer geschuldet. Unter anderem zeigt sich: Fast die Hälfte der aus Sachsen-Anhalt Abgewanderten kann sich eine Rückkehr vorstellen - wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen.
Um 1,4 Millionen Einwohner schrumpften die fünf neuen Bundesländer und Berlin
seit 1990 - ein Großteil ist durch die Abwanderung nach Westdeutschland zu
erklären. In der ostdeutschen Bevölkerung wird die Ost-West-Wanderung in erster
Linie mit Besorgnis aufgenommen. Gerade in ländlichen Regionen führt sie zur
Entleerung ganzer Landstriche. Von wirtschaftspolitischer Seite wird befürchtet,
dass durch die Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen ein Defizit an
Fachkräften entsteht und dadurch eigene Potenziale für die wirtschaftliche
Entwicklung verloren gehen.
Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird die
Abwanderung junger und qualifizierter Personen häufig als "brain drain"
bezeichnet. Dieser Begriff wird immer dann verwendet, wenn einem Land oder einer
Region durch Abwanderung Wissen und Qualifikationen, so genanntes Humankapital,
verloren gehen. Aus der internationalen Arbeitskräftemigration ist bekannt, dass
ein "brain drain" unter bestimmten Bedingungen langfristig durchaus positive
Effekte im Herkunftsgebiet nach sich ziehen kann, wenn durch Netzwerke,
Kapitaltransfers oder bestenfalls Rückwanderung der Migranten positive
regionalökonomische Impulse freigesetzt werden.
Zum "brain drain" aus
Ostdeutschland läuft bis September 2007 ein von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Projektleiter ist Prof. Dr. Klaus
Friedrich, Professor für Sozialgeographie. Projektbearbeiterin ist die
Diplom-Geographin Andrea Schultz. Die Wissenschaftler untersuchen, was den
Wanderungsstrom maßgeblich verursacht und welche Auswirkungen Wanderungen in der
ersten Phase des Erwerbsverlaufs auf die Akteure haben. In einem zweiten Schritt
werden sie der Frage nachgehen, welche regionalökonomischen Konsequenzen die
Ost-West-Migration für die Herkunftsgebiete hat. Dabei wird auch gefragt, ob die
Abwanderung als zirkulierende Mobilität gedeutet werden kann, die künftig durch
Rückwanderung der Migranten vermehrtes Wissen zurückbringt und dadurch der
ostdeutschen Wirtschaft nützt. Erste Ergebnisse liegen nun vor.
So können
sich 47 Prozent der aus Sachsen-Anhalt Abgewanderten vorstellen, hierher
zurückzukehren, für weitere 17 Prozent der 1200 Befragten kommt dies
"vielleicht" in Frage. "In Verbindung mit anderen Faktoren wie Kontaktnetzwerken
mit der Heimat und der Integration in der Zielregion lässt sich feststellen,
dass vor allem jene, die auch in Sachsen-Anhalt geboren wurden, die höchste
Rückkehrbereitschaft zeigen", berichtet Projektbearbeiterin Andrea Schultz.
"Auch verfügen die potenziell Rückkehrwilligen über ein relativ hohes
Bildungsniveau."
Die vorläufigen Ergebnisse verdeutlichen, dass die
Migranten bereits dadurch, dass sie in Westdeutschland eine berufliche
Perspektive finden, ihre überregionale Konkurrenzfähigkeit unter Beweis stellen.
"Dies ist auch als Qualitätsmerkmal einer Region zu werten", konstatiert Andrea
Schultz. Durch die Migration könnten die Akteure ihre Qualifikationen, ihr
Wissen und ihre Fähigkeiten weiter steigern. Zudem gebe es Anzeichen dafür, dass
es langfristig gelingen könnte, über Faktoren wie regionale Verbundenheit und
Heimatgefühl Rückwanderung zu initiieren. Die tatsächliche Entscheidung zur
Rückkehr werde jedoch von ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig gemacht. Das
Land Sachsen-Anhalt besitze bei seinen ehemaligen Einwohnern keinen Bonus, wenn
es um Lohn- und Gehaltsvorstellungen geht.
"Weil Mobilität ein
elementarer Faktor in der individuellen Wissensaneignung ist, sollten aus
unserer Sicht Handlungsstrategien nicht in Maßnahmen zur Minderung von Mobilität
münden", so Geographin Schultz. "Vielmehr erscheint es sinnvoll,
Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Zu- oder Rückwanderung fördern. In diesem
Sinne ist Abwanderung auf der individuellen Ebene in erster Linie positiv zu
bewerten und sinnvoller als das Verbleiben in der Region. Auch aus
regionalpolitischer Sicht überwiegen die Vorteile für Ostdeutschland im Falle
einer zukünftigen Rückwanderung."
Die Konsequenzen der Abwanderung zu
diskutieren, mögliche Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, optimale
Handlungsstrategien zu entwickeln, dazu soll ein Workshop im Rahmen des
DFG-Projekts dienen. Am 9. und 10. November werden ca. 60 Wissenschaftler
verschiedener Disziplinen, Vertreter politischer Institutionen sowie Raum- und
Regionalplaner in Halle zusammenkommen. Der Workshop wird vom Institut für
Geowissenschaften der Martin-Luther-Universität in Kooperation mit dem
Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Sachsen-Anhalt ausgerichtet.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.