Staatsanwaltschaft erhebt erste Anklage im Fall Wirecard
Archivmeldung vom 14.03.2022
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 14.03.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Sanjo BabićDie Staatsanwaltschaft München I hat am Donnerstag im Komplex "Wirecard" erstmals Anklage erhoben. Die richtet sich gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun, den die Staatsanwaltschaft "Dr. B." nennet, sowie zwei weitere frühere Manager.
Zwei
der drei Angeschuldigten befänden sich in Untersuchungshaft, hieß es.
"Die Ermittlungen erwiesen sich selbst im Vergleich zu bereits in der
Vergangenheit bei der Staatsanwaltschaft München I geführten
Wirtschaftsgroßverfahren als außerordentlich schwierig und umfangreich",
teilte die Staatsanwaltschaft mit. Dutzende Ermittler waren im Einsatz,
340 Firmen, 450 Personen und über 1.100 Bankverbindungen wurden
überprüft, sowie 450 Vernehmungen und allein in Deutschland 40
Durchsuchungen durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass
die Beteiligten innerhalb und außerhalb der Wirecard AG über Jahre
hinweg darauf hingearbeitet haben, dass diese als rasant wachsendes,
überaus erfolgreiches FinTech-Unternehmen wahrgenommen wurde, das sogar
in den DAX 30 aufstieg.
"Hierzu erfanden sie angeblich äußerst
ertragreiche Geschäfte, vor allem in Asien". Die Konzernabschlüsse der
Jahre 2015 bis 2018 waren falsch und gaben die Verhältnisse des Konzerns
unrichtig wieder, da in ihnen angeblich aus sogenanntem TPA-Geschäft
stammende Erlöse verbucht waren. Als TPA-Geschäft (TPA = Third Party
Acquirer) wurde ein Modell bezeichnet, bei dem die Erbringung von
Zahlungsdienstleistungen nicht allein durch den Wirecard-Konzern
erfolgte, sondern ein Teil aufgrund fehlender eigener Lizenzen oder
aufgrund der Zugehörigkeit eines Händlers zu einem besonders profitablen
Hochrisikogeschäft wie z.B. Pornographie oder Glücksspiel auf einen
Dritten ausgelagert wurde und Wirecard insoweit lediglich als Vermittler
auftrat. Angebliche Haupt-TPA-Partner waren drei Gesellschaften in
Dubai, auf den Philippinen und in Singapur.
Die Erlöse wurden
entweder als direkte Forderungen gegen die TPA-Partner oder als Guthaben
auf Treuhandkonten in Singapur verbucht und in die Bilanz aufgenommen,
existierten jedoch tatsächlich nicht. Das angeblich durch eine
Treuhänderfirma in Singapur verwaltete Guthaben von zuletzt (2018) fast
einer Milliarde Euro gab es nach Ansicht der Staatsanwaltschaft zu
keinem Zeitpunkt. Entsprechende Saldenbestätigungen wurden gefälscht.
"Der Angeschuldigte Dr. B. wusste, dass mit Übernahme der unrichtigen
Buchungszahlen die Konzernbilanz ebenfalls falsch wurde, und
unterzeichnete als CEO gleichwohl die jeweiligen Abschlüsse", heißt es
in der Erklärung der Staatsanwaltschaft.
Im Zeitraum zwischen
dem 01.01.2015 und dem 27.04.2019 veröffentlichte die Wirecard AG für
die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 sowohl unterjährig als auch jeweils mit
Veröffentlichung des Konzernabschlusses Prognosen und Ergebnisse, wobei
in diese jeweils auch die Ergebnisse aus dem angeblichen TPA-Geschäft
einflossen. "Jedem Angeschuldigten war spätestens ab Ende 2015 klar,
dass die Wirecard AG mit dem tatsächlichen, realen Geschäft nur Verluste
erwirtschaftete, was letztlich in eine Insolvenz münden würde", so die
Staatsanwaltschaft. Mit der Veröffentlichung der erheblich geschönten
Zahlen hätten die Beteiligten gegenüber den Anlegern den Eindruck
erwecken wollen, dass es sich bei der Wirecard AG um ein geschäftlich
erfolgreiches und zahlungskräftiges Unternehmen handelte. "Wäre die
wahre Finanzlage veröffentlicht worden, wäre es demgegenüber zu
erheblichen Kurseinbrüchen gekommen", so die Behörde.
"Die
Manipulation der Bilanzkennzahlen und deren Veröffentlichung war
notwendiger und gewollter Zwischenschritt für die Erlangung von
Finanzierungsmitteln für die Wirecard AG". Das Ganze stelle eine
bandenmäßige Begehung dar. "Die Angeschuldigten handelten zudem, um sich
selbst eine dauerhafte Einnahmequelle zu schaffen." Hinsichtlich des
Angeschuldigten "Dr. B." seien beispielsweise Teile der ihm zukommenden
Vorstandsvergütung an die Wertentwicklung der Wirecard-Aktie gekoppelt,
gewesen.
Er hielt zudem persönlich einen erheblichen Anteil des
ausgegebenen Aktienkapitals (zuletzt ca. 7 Prozent), so dass er in
entsprechender Höhe an den durch die Wirecard AG ausgeschütteten
Dividenden - insgesamt ca. 5,5 Millionen Euro - profitierte. "Darüber
hinaus entschied der Angeschuldigte Dr. B. ohne die übrigen Beteiligten,
am 22.04.2020 eine Ad-hoc-Mitteilung zum Bericht der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zu veröffentlichen. In dieser
vermittelte er wahrheitswidrig den Eindruck, der anstehende KPMG-Bericht
werde die Wirecard AG von allen Vorwürfen der Bilanzmanipulation
entlasten. Tatsächlich wurde im Rahmen dieses Berichts festgestellt,
dass keine Aussage über die (Nicht-)Existenz des TPA-Geschäfts getroffen
werden konnte, da hierfür erforderliche Unterlagen nicht vorgelegt
worden waren." Die Ad-hoc- Mitteilung war nach Ansicht der
Staatsanwaltschaft insoweit zumindest irreführend und geeignet, auf den
Preis der Aktie der Wirecard einzuwirken, bzw. wirkte auch tatsächlich
darauf ein. Wirecard gewährte zudem einer singapurischen Firma, die dem
Umfeld eines anderweitig verfolgten Bandenmitglieds zuzurechnen ist, im
Dezember 2019 ein sogenanntes "Security Deposit" in Höhe von insgesamt
40 Millionen Euro.
Mit einer Rückführung ist wohl nicht zu rechnen, das
Unternehmen ist "nicht mehr erreichbar", wie die Staatsanwaltschaft
feststellte. Das ausgezahlte Geld diente vorgeblich dazu, den
angeblichen TPA-Partner in Dubai zu ersetzen. In der Anklage wirft die
Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten "Dr. B." vor, das sein Vorgehen
in Anbetracht der gesellschaftsrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht mit
den Pflichten eines ordentlichen Kaufmanns in Einklang zu bringen sei:
Es wurden keinerlei Sicherheiten zugunsten der Wirecard AG und noch
nicht einmal eine Pflicht zur Anlage des Security Deposits als Kaution
oder eine wie auch immer geartete Zweckbindung vereinbart, ebenso wenig
konkrete Rückführungsmodalitäten oder ein Rückführungszeitpunkt. Zudem
beteiligte er den Aufsichtsrat der Wirecard AG weder vor noch nach der
Entscheidung über die Gewährung des Deposits, obwohl dies erforderlich
gewesen wäre. "Hinzu kommt, dass die 40 Millionen Euro zu einem
Zeitpunkt gewährt wurden, zu dem parallel eine umfassende
KPMG-Sonderuntersuchung im Auftrag des Aufsichtsrats feststellen sollte,
ob das TPA-Geschäft überhaupt existierte."
Darüber hinaus lagen dem
Angeschuldigten nach Ansicht der Staatsanwaltschaft weder Unternehmens-
noch Finanzkennzahlen vor, so dass keine vernünftige Prognose bzw.
Kalkulation möglich war, die Entscheidung vielmehr "ins Blaue hinein"
getroffen wurde. Bei der Erhöhung des Deposits von zunächst 10 auf
insgesamt 40 Millionen Euro am Abend vor den Weihnachtsfeiertagen 2019
erfolgte nicht einmal eine formelle Beschlussfassung des Vorstands,
geschweige denn eine Beiziehung von bzw. Bezugnahme auf schriftliche
Unterlagen. "Vielmehr stimmte der Angeschuldigte Dr. B. dem per Mail
übermittelten Vorschlag des anderweitig Verfolgten M. ohne nähere
Prüfung sofort zu und übte an- schließend Druck auf die weiteren
Mitglieder des Vorstands aus, ebenfalls ihre Zustimmung zu erteilen", so
die Staatsanwaltschaft.
Einen weiteren Tatkomplex "MCA-Darlehen"
beschreibt die Staatsanwaltschaft so: Spätestens 2017 war innerhalb des
Vorstands der Wirecard AG entschieden worden, ein angeblich neues
Geschäftsfeld zu eröffnen; Dabei sollten über eine vordergründig von der
Wirecard AG und den angeblichen TPA-Partnern unabhängige
Drittgesellschaft Händler "vorfinanziert" werden; Die Händler sollten
eine Art Betriebsmittelkredit erhalten, der dadurch zurückgeführt würde,
dass von den abgewickelten Kartenzahlungen Anteile einbehalten würden
(MCA - Merchant Cash Advance). Als angeblich neutrale Drittgesellschaft
wurde eine Ltd. (Limited) ausgewählt, die in der Finanzierung von
Öltransporten tätig war, also nichts mit Kreditkartenzahlungen zu tun
hatte, und unter Kontrolle eines Bandenmitglieds stand. Die Ltd. wurde
nach mehreren formalen Eigentümerwechseln über Briefkastengesellschaften
umbenannt in OCAP und stellte Ende 2017 einen ersten Kreditantrag für
MCA-Finanzierungen bei der Wirecard Bank.
Tatsächlich war OCAP weder
geeignet noch in der Lage, MCA-Geschäfte durchzuführen, so die
Staatsanwaltschaft. Da Sicherheiten nicht gestellt werden konnten und
weitere formale Kriterien nicht erfüllt waren, wurde der Antrag durch
den Vorstand der Wirecard Bank AG zunächst abgelehnt. Hier schaltete
sich der Angeschuldigte "Dr. B." persönlich ein und baute entsprechenden
Druck auf, so dass der Kredit gegen eine Bürgschaftsübernahme durch die
Wirecard AG schließlich doch gewährt wurde. Zunächst wurden lediglich
10 Millionen Euro ausbezahlt, das so erhaltene Geld jedoch angeblich
nicht an Händler weitergeleitet. Dieser Darlehensvertrag und die
Bürgschaftsübernahme wurden, obwohl bereits erhebliche
Unregelmäßigkeiten auftraten, im Jahr 2019 verlängert. Schon im Oktober
2018 hatte eine weitere Tochtergesellschaft der Wirecard AG der OCAP ein
weiteres Darlehen in Höhe von 10 Millionen Euro ausgereicht, dem Ende
November 2018 ein zusätzliches Darlehen über 100 Millionen Euro folgte.
Die Beschlüsse für letzteren Vorgang seien "allein durch den
Angeschuldigten Dr. B und den anderweitig Verfolgten M. ohne die übrigen
Vorstandsmitglieder und ohne vorherige Beteiligung des Aufsichtsrats
gefasst" worden, so die Staatsanwaltschaft. Erst nach Auszahlung
erfolgte eine Billigung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden, der das
übrige Kollegium nicht einband. "Da sich der Vorstandsvorsitzende der
Wirecard Bank zunächst weigerte, wurde er von Dr. B. ausdrücklich
angewiesen, den Betrag ohne jeden Aufschub zu überweisen." Bis Herbst
2019 waren erhebliche Zinsrückstände aufgelaufen und eine Rückzahlung
der offenen Forderungen aus den Darlehen nicht absehbar. Zur
Verschleierung wurde ein neues Modell unter anderem durch den
Angeschuldigten von E. ersonnen, das OCAP zum Schein in die Lage
versetzte, diese Darlehen zeitnah zumindest anteilig zurückzuführen.
Hierzu wurden vorgeblich der OCAP gegen Dritte zustehende Forderungen
verbrieft, die anschließend durch Gesellschaften des Wirecard-Konzerns
erworben wurden. Dies sollte nach Ansicht der Ermittler die
Jahresabschlussprüfer täuschen, da ansonsten die Darlehen tatsächlich
als notleidend einzustufen gewesen wären und hätten abgeschrieben werden
müssen.
"Dieser Plan wurde unter anderem durch den Angeschuldigten Dr.
B. umgesetzt, der unter erheblichen Bedenken sowohl der eigenen
Rechtsabteilung als auch externer Kanzleien eine Tochtergesellschaft
anwies, tatsächlich wertlose Papiere einer eigens zu diesem Zweck in
Luxemburg gegründeten Gesellschaft der OCAP über insgesamt 100 Millionen
Euro zu zeichnen", so die Staatsanwaltschaft. Die so erlangten weiteren
Gelder verwendete OCAP zur teilweisen Darlehensrückführung. Am
25.03.2020, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die KPMG-Prüfung in vollem
Gange war, fasste "Dr. B." darüber hinaus zusammen mit den übrigen
Vorstandsmitgliedern wohl den Beschluss, weitere 100 Millionen Euro
Darlehen an OCAP zu gewähren. Die Auszahlung erfolgte laut Ermittlern am
27.03.2020. Von der OCAP wurde dieses Geld noch am selben Tag in voller
Höhe auf ein Konto in Litauen überwiesen, von dem ein Betrag in Höhe
von 35 Millionen Euro über ein ebenfalls in Litauen eröffnetes Konto an
den anderweitig Verfolgten M. auf dessen Konto weitergeleitet wurde.
"M.
überwies den erhaltenen Betrag als angebliche Rückzahlung eines
Darlehens aus dem Jahr 2017, welches ihm formal durch den
Angeschuldigten Dr. B. gewährt worden war, auf ein Konto der
Vermögensverwaltungsgesellschaft des Angeschuldigten Dr. B.", so die
Staatsanwaltschaft. Über diese Gesellschaft hatte "Dr. B." bei einer
Bank ein Darlehen über 150 Millionen Euro aufgenommen, das zum Ende des
Jahres 2019 fällig gestellt worden war. Die Ablösung dieses Darlehens
hatte der Angeschuldigte unter anderem über ein Darlehen der Wirecard
Bank refinanziert, so die Ermittler. Da der Aufsichtsrat im März 2020
die Zustimmung zu diesem Darlehen endgültig verweigerte, kündigte die
Wirecard Bank das Darlehen über 35 Millionen Euro zum 01.04.2020; Die
Rückführung des Darlehens erfolgte mit dem Anteil von 35 Millionen Euro,
der dem Angeschuldigten aus der Darlehensgewährung an OCAP zufloss. "Im
Zusammenhang mit all diesen Transaktionen verletzte der Angeschuldigte
nach Auffassung der Staatsanwaltschaft in evidenter und gravierender
Weise seine Verpflichtungen gegenüber der Wirecard AG", so die
Staatsanwaltschaft.
Ihm werden deshalb sechs Fälle der Untreue zur Last
gelegt, durch die jeweils ein Vermögensverlust großen Ausmaßes
herbeigeführt wurde. Spätestens Ende 2015 war nach Ansicht der Emittler
allen Angeschuldigten bewusst, dass der Wirecard-Konzern mit den
tatsächlichen Geschäften nur Verluste erzielte. Um gleichwohl
Erwerbungen vornehmen und laufende Kosten tragen zu können, veranlassten
sie in unterschiedlicher Rollenverteilung "unter Einbindung weiterer
Bandenmitglieder" und nicht eingeweihter Personen, dass Verhandlungen
über die Bereitstellung von Geldmitteln durch Kreditaufnahmen und
Ausgabe von Schuldverschreibungen aufgenommen bzw. fortgeführt wurden.
Während der Verhandlungen hierüber wurden den jeweiligen
Vertragspartnern die aktuellen Geschäftszahlen und weitere Unterlagen
vorgelegt, die, wie alle Angeschuldigten angeblich wussten, grob falsch
waren, da in ihnen erhebliche Forderungen gegen TPA-Partner und Guthaben
auf Treuhandkonten enthalten waren, die tatsächlich nicht existierten.
In der irrigen Annahme, mit einem erfolgreichen, prosperierenden, ordnungsgemäß geführten und auf jeden Fall kreditwürdigen DAX-Unternehmen zu verhandeln, wurden von den geschädigten Banken insgesamt vier Kredite in Höhe von rund 1,7 Milliarden Euro ausbezahlt und zwei Schuldverschreibungen von rund 1,4 Milliarden Euro begeben. "Sämtliche angeschuldigten Bandenmitglieder handelten bei diesen sechs Betrugsfällen gewerbsmäßig, da sie so ihre eigenen Gehälter, zu denen teilweise auch erfolgsabhängige Gehaltsbestandteile zählten, sicherten", so die Staatsanwaltschaft. "Die Fahndungsmaßnahmen gegen das Bandenmitglied M. laufen weiter", teilten die Ermittler mit. Gemeint ist Jan Marsalek, ehemaliges Vorstandsmitglied der Wirecard AG. Nach ihm wird weltweit gefahndet.
Quelle: dts Nachrichtenagentur