Nico Rosberg: "Traue Vettel in diesem Jahr zu, Leclerc wegzuputzen."
Archivmeldung vom 15.02.2020
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Freigeschaltet durch André OttEinen Monat vor dem Start der neuen Saison traf RTL seinen Formel1-Experten Nico Rosberg zum Interview. Auch wenn noch nicht alle Boliden vorgestellt und die ersten aufschlussreichen Testfahrten noch gar nicht absolviert sind, wagt der Weltmeister von 2016 einen ersten Blick auf das WM-Jahr 2020.
2019 gab es im neunten Rennen in Spielberg den ersten nicht-Mercedes-Sieg. Droht eine ähnliche Dominanz in diesem Jahr?
"Mercedes ist der Favorit. Natürlich ist es möglich, dass die wieder dominieren werden, aber ich bin guter Dinge, dass es noch spannender wird. Ich bin überzeugt davon, dass Red Bull und Ferrari einen ganz tollen Job geleistet haben über den Winter. Die werden stark in die Saison starten."
Was macht Ihnen Mut, dass wir eine spannendere Saison erleben als im letzten Jahr? Im letzten Jahr dominierte Ferrari die Testsessions vor dem Saisonstart, dann kam Melbourne und Mercedes machte alle platt...
"Dafür gab es viele Gründe. Ferrari stand oft auf der Pole in den ersten Rennen, aber konnte das im Rennen nicht umsetzen. Irgendwann werden sie aber auch lernen, alles zusammen zu bekommen und dann perfekte Rennen abliefern. Deswegen glaube ich, dass die Chance besteht, dass sie mit Mercedes auf Augenhöhe sein werden. Bei Red Bull läuft der Honda-Motor jetzt klasse. Vielleicht ist er mittlerweile sogar so schnell wie der Mercedes-Motor. Man munkelt sogar, dass er ein paar PS mehr hat. Bisher war die große Schwäche von Red Bull, dass sie am Anfang der Saison sehr schwach waren. In der Entwicklung während der Saison waren sie die besten. Die werden das auch schaffen, dass sie irgendwann in der Winterpause sich genauso gut entwickeln wie während der Saison. Ich habe große Hoffnungen. Mal schauen, ob ich in Melbourne dann Recht behalte. Ich denke, es könnte sehr eng werden."
Das ganze Ferrari-Team steht enorm unter Druck, Sebastian Vettel ebenso. Aber war das im letzten Jahr nicht genau das Problem?
"Sebastian ist sehr selbstanalytisch. Mit etwas Abstand kann er seine Fehler gut analysieren und sich selbst hinterfragen. Er ist super fleißig und ehrgeizig. Das war schon immer seine Stärke. Deswegen traue ich ihm definitiv zu, dass er seinen Teamkollegen Leclerc dieses Jahr vielleicht sogar wegputzen kann."
War das Auto im vergangenen Jahr vielleicht mehr auf Leclerc zugeschnitten?
"Das Auto war definitiv nicht auf Leclerc zugeschnitten, weil Sebastian der Nummer-eins-Fahrer war. Alles wurde für Sebastian angefertigt. Leclerc hat sich dann aber tatsächlich wohler gefühlt im Auto, weil das Heck vom Ferrari unstabil war. Mit solch einem Auto hat der Sebastian schon immer Probleme gehabt. Man kann das Problem innerhalb einer Saison nicht so schnell beheben. Aber auch für Leclerc war das nicht ideal. Ich habe aber von den Ingenieuren von Ferrari erfahren, dass sie diesen Winter den Fokus darauf gelegt haben, mehr Stabilität in das Heck zu bringen. Das muss auch beim Bremsen sitzen."
Es heißt, Ferrari habe den Abtrieb stark verbessert, um die Kurvenlage zu optimieren - vielleicht mit leichten Abstrichen auf den Geraden, wo das Auto besonders schnell unterwegs war. Sehen Sie das genauso?
"Letztes Jahr hat Ferrari sein Auto-Konzept falsch positioniert. Die waren viel zu schnell auf den Geraden und zu langsam in den Kurven. Da muss man immer einen aerodynamischen Kompromiss eingehen. Da musst du auch die Strecken über die gesamte Saison hinweg betrachten. Es gibt Strecken wie in Monaco und Strecken wie in Montreal und Monza. Das Auto muss im Durchschnitt gut sein. Ferrari war aber nur auf Strecken wie Montreal und Monza schnell. Die müssen mehr auf die Aerodynamik achten und dafür riskieren, dass man langsamer ist. Dafür gibt es ein stabileres Heck, die Fahrer haben mehr Selbstbewusstsein und können mehr aus dem Auto herausholen."
Wo sitzt Sebastian in einem Jahr?
Das ist eine spannende Frage. Er weiß es selber nicht. Er wird jetzt schauen, was dieses Jahr passiert. Wenn es gut läuft, wird er bestimmt auch 2021 in einem Top-Auto sitzen. Vielleicht ist es nicht Ferrari. Mercedes wäre für ihn als Deutschen auch eine Option. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass der große Traum ist, mit Ferrari Weltmeister zu werden. Gerade mit Michael Schumacher als Idol. Ich denke schon, dass er diesen Traum noch eine Weile verfolgen wird."
Teamchef Binotto spricht davon, dass Sebastian zur Zeit die erste Option sei, wenn er an das Thema Cockpit-Besetzung 2021 denke. Ist das nicht nur ein halbes Bekenntnis zum Deutschen?
"Leicht ist das nicht für Sebastian, denn das stärkere Bekenntnis hat Leclerc vom Team bekommen. Aber es gibt auch einen Grund dafür. Das liegt daran, dass Sebastian die letzten Jahre keine optimalen Saisons hatte. Er muss sich das hundertprozentige Vertrauen von seinem Team wieder erarbeiten. Besonders in den ersten Rennen ist es wichtig, dass er gute Leistung abliefert."
Wo sitzt Lewis Hamilton in einem Jahr?
"Lewis sitzt vielleicht in einem Jahr auf einem Schneemobil zu Hause in Colorado oder bei Mercedes oder Ferrari. Das sind wohl die Optionen."
Können Sie sich vorstellen, dass Lewis nach dieser Saison sagt, das war's?
"Ich kann mich schwer in ihn hineinversetzen. Er ist dann 35 Jahre alt und hat so viel erreicht. Irgendwann will man da vielleicht Familie haben oder andere Interessen verfolgen. Er hat mittlerweile neue Interessen aufgebaut wie Fashion und Schauspiel. Ich denke, seine Entscheidung hängt auch davon ab, wie sein Auto dieses Jahr laufen wird. Wenn man viel gewinnt und in Rennen dominieren kann, dann macht das viel Spaß. Wenn andere das Rennen dominieren und es nicht so gut läuft, verliert man, denke ich, eher die Lust."
Lewis Hamilton könnte sich dieses Jahr unsterblich machen mit einem 7. WM-Titel und neuen Rekorde. Trauen Sie ihm das zu?
"Klar! Dieses Jahr kann Lewis der Größte aller Zeiten werden. Wer hätte gedacht, dass irgendjemand mal an Schuhmachers Rekorde heranreichen kann? Natürlich würde man es Michael Schuhmacher sehr gönnen, statistisch gesehen der größte Rennfahrer aller Zeiten zu bleiben. Auf der anderen Seite ist es Wahnsinn, dass Lewis es soweit geschafft hat."
Sehen Sie Lewis Hamilton und Schumi auf Augenhöhe?
"Ich hatte das große Glück, mit den beiden Größen jeweils mindestens drei Jahre lang Teamkollege im selben Auto zu sein. Deshalb kann ich beide sehr gut vergleichen. Ich kann aber nicht den einen über den anderen erheben. Michael ist der akribischste Arbeiter. Die Leidenschaft für den Sport stellt ihn heraus. Lewis dagegen ist eher das instinktive Naturtalent. Beide sind einfach Wahnsinnsfahrer."
Red Bull wird in diesem Jahr sicher wieder vorne mitspielen, allen voran Max Verstappen. Was trauen Sie ihm zu?
"Max Verstappen finde ich sensationell. Es macht immer Spaß, ihm zuzusehen. Wenn er aus einem Rennen raus ist, ist es nur noch halb so spannend. Momentan ist er eines der größten Talente und der schnellste Fahrer. Es ist möglich, dass Red Bull ihm das nötige Auto gibt, um um den Weltmeistertitel mitzufahren. Letztes Jahr ist er, mit einem stark unterlegenen Auto, bereits WM-Dritter geworden und hat die Jungs von Ferrari geschlagen."
2021 ist das Jahr der großen Regel-Revolution. Was bedeutet das für die aktuelle Saison? Ist 2020 ein Übergangsjahr?
"Dieses Jahr wird definitiv kein Übergangsjahr sein. Es geht um die Fahrer-WM und die Konstrukteurs-WM. Alle sind mit Vollgas dabei, alle wollen gewinnen. Ich glaube, das könnte richtig spannend werden. Ende 2020 wird es dann eine riesige Regeländerung: Die Motoren bleiben relativ ähnlich, aber die Autos werden komplett neu entwickelt. Das wird uns noch besseren Rennsport bieten, viel mehr Überholmanöver, enge Duelle. 10 bis 20 Prozent der Entwicklungen für 2021 laufen bereits jetzt. Gerade die Teams, die Anfang des Jahres schon merken, das wird dieses Jahr nichts mit der WM, die erlauben sich dann noch früher zu switchen. Das haben wir zuletzt 2009 mit Brawn GP gesehen und 2014, als wir Weltmeister geworden sind im Mercedes, weil wir die Regeländerung voll ausgenutzt haben."
Quelle: RTL Television GmbH (ots)