Neustädter & Co. wollen für russische Sbornaja auflaufen
Archivmeldung vom 30.01.2016
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittFür die russische Fußball-Nationalelf kann demnächst der erste eingebürgerte Spieler auflaufen: Höchstwahrscheinlich wird das Roman Neustädter, der Mittelfeldspieler vom FC Schalke 04, sein. Das berichtet das russischen online Magazin "Sputnik" auf der deutschen Webseite. Weiterlesen:
Weiter heißt es: "Der 27-Jährige ist der Sohn des in den frühen 1990er Jahren nach Deutschland ausgewanderten sowjetischen Fußballers Peter Neustädter. Bereits im Februar könnte er den russischen Pass erhalten und dürfte dann im Sommer bei der Europameisterschaft in Frankreich für Russland spielen.
2011 hatte die Ukraine versucht, den damaligen Spieler von Borussia Mönchengladbach auf ihre Seite zu ziehen, denn er war im ukrainischen Dnepropetrowsk zur Welt gekommen. Damals aber wurde aus dieser Idee nichts. Im Herbst 2015 dachten bereits die Russen an Neustädter. Sportminister Vitali Mutko sorgte für Aufsehen, als er sagte, bei der EM 2016 könnte in der Nationalelf ein eingebürgerter Ausländer spielen.
Zwar hat Neustädter mehrere Spiele für deutsche Juniorenteams und sogar für die A-Nationalmannschaft absolviert, aber das waren nur Freundschaftsspiele, so dass der sportlichen „Emigration“ nichts im Wege steht. Auffallend ist allerdings, dass Mutko erst in dieser Woche sagte, Neustädter müsste möglicherweise auf die deutsche Staatsbürgerschaft verzichten, um für Russland auflaufen zu dürfen. Ob der Sportler diese Bedingung jedoch akzeptiert, bleibt fraglich. Dazu muss er sich von Mitarbeitern des Justizministeriums seiner historischen Heimat beraten lassen.
Warum der Russische Fußballbund sich ausgerechnet für Neustädter entschieden hat? Wohl weil er nicht nur ein guter, sondern auch universeller Spieler ist, der sowohl im Mittelfeld als auch in der Abwehr eingesetzt werden kann. In der Verteidigung spielte er übrigens zuletzt gegen Werder Bremen (das Spiel haben die Schalker 1:3 verloren), wobei der russische Nationaltrainer Leonid Sluzki auf der Tribüne des Gelsenkirchener Stadions saß. Trotz einiger Fehler lobte er Neustädters Leistung und nannte ihn einen „qualifizierten Fußballer“.
Für Neustädter spricht auch seine Position als Stammspieler der Schalker: In dieser Saison absolvierte er 14 von insgesamt 18 Bundesliga-Spielen, ein Spiel im DFB-Pokal und fünf Spiele der Europa League. In seinen vier Jahren auf Schalke schoss Neustädter bislang sieben Tore (was allerdings nicht seine Spezialität auf dem Feld ist). Im Februar wird er 28 Jahre alt, was für einen Fußballer gerade die „Blütezeit“ ist. Zudem spricht er einwandfrei Russisch und kennt die Besonderheiten der russischen Mentalität.
Immer mehr „russische Deutsche“ lockt auch Kasachstan an. Peter Neustädter hatte in den 1990er Jahren mehrere Spiele für die Nationalelf dieses Landes absolviert.
„Mein Sohn kann das Spiel lesen – man muss ihn nur richtig reizen“, sagte Peter Neustädter, der aktuell Sportdirektor beim FC Inter Baku ist, in einem Interview für die Webseite Sportfakt.ru. „Roman spielt intelligent Fußball, versteht ihn gut. Aus meiner Sicht würde er gut zur russischen Mannschaft passen. Ich persönlich würde die ‚russische Variante‘ nur begrüßen. Jeder Fußballer hat den Traum, an einem großen Wettbewerb teilzunehmen. Warum sollte er so eine Chance verpassen? Meines Erachtens war Sluzkis Reise nach Gelsenkirchen ein richtiger Schritt. Als Trainer muss man einen Spieler mit eigenen Augen sehen – seine eigenen Augen täuschen nicht. Ob Roman in die russische Premier-Liga wechseln könnte? Im Sommer läuft sein Vertrag mit dem FC Schalke aus…“
In einem Interview für deutsche Medien zeigte sich Neustädter Jr. überzeugt, dass er bereits im März in die russische Nationalelf berufen werden könnte. „In dieser Saison hinterlässt Romans Spiel einen guten Eindruck“, zitierte die Nachrichtenagentur TASS den zweiten Trainer der russischen Mannschaft, Sergej Balachnin. „Ein besonderes Plus ist, dass er ein Allrounder ist.“
Es haben sich aber auch Gegner der Idee zur Einbürgerung Neustädters gefunden. Zu den Kritikern gehört auch der Abwehrspieler vom FC Lokomotive Moskau, Dmitri Tarassow, für den Neustädter theoretisch ein Konkurrent um die Position in der Nationalelf wäre. Nach seinen Worten ist Einbürgerung „grundsätzlich nicht unser Weg“. Ähnlich äußerten sich auch viele weitere aktive Fußballer. Vor einigen Jahren hatte sich eine ganze Gruppe von Spielern, allen voran der Stammkeeper der Nationalelf, Igor Akinfejew, vehement gegen die Einbürgerung des Brasilianers Welliton (damals Spartak Moskau) geäußert, aber das Thema wurde auf höchster Ebene diskutiert. Welliton war zwar zwei Mal Torschützenkönig der Premier-Liga, aber danach spielte er nicht mehr so gut, und die Frage war damit quasi vom Tisch.
Zuvor wäre der Kameruner Jerry-Christian Tchuissé (damals FC Spartak) beinahe der erste eingebürgerte Ausländer in der russischen Nationalauswahl geworden. Noch 2000 hatte der damalige Cheftrainer der Moskauer, Oleg Romanzew, dank seiner Kontakte im Präsidialamt den russischen Pass für seinen Schützling besorgt. Bald danach wurde er zu einem Qualifikationsspiel zur WM 2002 gegen die Färöer Inseln berufen, allerdings nicht aufgestellt. Nach langem Grübeln entschied sich Tchuissé doch für die Nationalelf seiner Heimat Kamerun. Für die „Unbezähmbaren Löwen“ hat er jedoch nur drei Spiele absolviert.
In den 2000er Jahren gab es in Russland generell diese Mode: Wenn irgendein ausländischer Fußballer, der für seine Nationalmannschaft noch nie gespielt hatte, eine gute Saison in der russischen Meisterschaft hinlegte, wurde sofort das Thema Einbürgerung aufgeworfen. Manchmal kamen dabei kaum bekannte Spieler wie die Brasilianer Danilo Neco (Alania Wladikawkas) und Antonio Fereira (Terek Grosny) infrage. Aber weder mit ihnen noch mit den „russischen Deutschen“ Alexander Merkel und Andreas Beck, noch mit vielen anderen Spielern klappte es nicht. Unlängst haben die Brasilianer Mario Fernandez (ZSKA Moskau) und Joaozinho (FC Krasnodar) die Einbürgerung beantragt.
„Ich lebe seit fünf Jahren in Russland, lerne Russisch, lerne die hiesigen Traditionen kennen“, sagte der 27-jährige Joaozinho der Webseite Championat.com. „Mir gefällt hier alles. Ich möchte auch nach meiner aktiven Laufbahn hier bleiben. Falls ich einen Job im Verein bekomme, wäre das prima. Jetzt möchte ich aber dem FC Krasnodar, der mein zweites Zuhause geworden ist, einen Gefallen tun und helfen, die Ausländerquote zu umgehen. Falls ich in die russische Nationalelf berufen werde, wäre ich glücklich, für sie zu spielen.“
Auch zwei andere Brasilianer aus Krasnodar, Ari und Wanderson, interessierten sich mehrmals für die Einbürgerung, haben allerdings bisher keine entsprechenden Schritte unternommen. Dazu wäre auch ihr Landsmann vom FC Ufa, Diego Carlos, bereit. Er macht kein Hehl daraus, dass sein Verein auf diese Weise die Ausländerquote umgehen will, wäre aber auch bereit, für die russische Nationalmannschaft aufzulaufen.
Unter allen Brasilianern, die in der russischen Meisterschaft spielen, hat sich bisher nur einer einbürgern lassen, nämlich der Torwart des FC Lokomotive Moskau, Guilherme. Es ist jedoch fraglich, ob Nationalcoach Sluzki ihn braucht, denn in Russland gab es schon immer viele gute Torhüter."
Quelle: Sputnik (Deutschland)