„Es wäre ein Traum für mich, heute mitspringen zu dürfen“ - Interview mit Walter Steiner
Archivmeldung vom 27.12.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.12.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEiner der erfolgreichsten Schweizer Skispringer kehrt in diesem Jahr als Ehrengast zur Internationalen Vierschanzentournee zurück: Walter Steiner aus Wildhaus (Toggenburg), zweimaliger Skiflugweltmeister und Silbermedaillengewinner bei den Olympischen Spielen von Sapporo (1972), wurde von den Präsidenten der Tournee-Partnerorte als diesjähriger Ehrengast zur bedeutendsten Wintersport-Serienveranstaltung eingeladen.
Ingo Jensen sprach mit ihm über Vergangenes und Aktuelles.
Herr Steiner,
was ist das für ein Gefühl, nach so langer Zeit an die Tourneeschanzen
zurückzukehren?
Steiner: Ich habe mich über diese Einladung wirklich riesig
gefreut. Das ehrt mich umso mehr, da ich ja die Tourneewertung leider nie
gewonnen habe. Immerhin hat es zu zwei Einzelsiegen in Garmisch-Partenkirchen
(1974, die Redaktion) und in Bischofshofen (1977, die Redaktion) gereicht. Die
Trophäe des Tournee-Gesamtsiegers hätte ich so gerne gehabt, aber sie fehlt mir
in meiner Sammlung. Dass ich trotzdem als Ehrengast kommen darf, bedeutet mir
sehr viel. Denn es zeigt, dass neben den sportlichen Erfolgen auch noch andere
Eigenschaften Eindruck hinterließen. Es ist schön, zu wissen, dass nicht nur
Siege zählen, und dass es Leute gibt, die mein Engagement nach all den Jahren
noch würdigen.
Hat Ihnen die Konstanz gefehlt, oder woran lag es, dass es
nie zum Gesamtsieg gereicht hat?
Steiner: Ich habe in der Tat eine
Entschuldigung für meinen oft schwachen Tourneestart in Oberstdorf. Als
Schweizer war es für mich geradezu Pflicht, am traditionellen Weihnachtsspringen
in St. Moritz teilzunehmen. St. Moritz liegt auf 1500 Metern Höhe, Oberstdorf
nur auf 800 Metern. Eigentlich hätte mir der hohe Druck auf Körper und Ski in
Oberstdorf ja liegen müssen. Aber ich hatte einfach Probleme, mich so schnell
umzustellen. Außerdem war der Anlauf auf der 1973 umgebauten Schattenbergschanze
sehr steil und der Radius sehr eng. Das war für Springer mit langen Beinen
wirklich immer ein Problem. Also auch für mich. In Bischofshofen mit dem flachen
Anlauf war das schon etwas ganz anderes. Zwar stellte auch hier der Absprung
eine besondere Herausforderung dar, aber mir gelang es immer recht, gut, den
idealen Zeitpunkt vorauszuberechnen. Außerdem kam mir das Profil des Hanges als
Flieger viel mehr entgegen. Deshalb habe ich in Bischofshofen immer die besten
Sprünge gemacht. Aber für die Tourneewertung war das natürlich immer zu
spät.
Erklären sie uns den Mythos der Tournee?
Steiner: Das lässt sich
schwer beschreiben, die Tournee ist einfach einzigartig und immer etwas
besonderes. Sie fordert einen Springer mehr als Olympische Spiele oder eine
Weltmeisterschaft. Denn bei einem Wettkampf, da kannst du wirklich mal Glück
haben oder eben einen sehr guten Tag erwischen. Aber die Tournee, mit ihren vier
Wettkämpfen an vier verschiedenen Orten, die gewinnt wirklich nur der beste
Springer der Welt.
Erinnern Sie sich noch an ihr erstes Mal?
Steiner:
Das muss wohl 1969 gewesen sein, da kam ich in die Schweizer Nationalmannschaft.
Und schon in den Tagen vor der Tournee haben mir als damals 18-jährigem die
Alten Angst gemacht und gesagt: ,Allein wenn du in Garmisch-Partenkirchen mit
dem Lift hoch fährst und das heulende Geräusch des Motors hörst, bekommst du das
Flattern.‘ Ich habe mich dann doch nicht so arg einschüchtern lassen und wurde
am Ende 37. Das war damals ein achtbares Ergebnis für mich als Neuling. Danach
ging alles sehr schnell und ich war ziemlich bald im Bereich der
Top-Ten-Athleten.
Und wie war es am Ende Ihrer Karriere?
Steiner: 1977
glaubte ich wirklich, die Skisprungtechnik und das nötige Material optimal zu
beherrschen. Ich war felsenfest davon überzeugt: ,Wenn ich gesund bin, wird es
schwer sein, mich zu besiegen.‘ Aber Kreuzbandprobleme und Knieoperationen haben
dieses Überlegenheitsgefühl schnell wieder verfliegen lassen. Nach einer
verpfuschten halben Wintersaison habe ich schließlich meine Skisprungkarriere
beendet. Es ging einfach nicht mehr.
Was unterscheidet die Tournee heute
von früher?
Steiner: Mit den großen Erfolgen der deutschen Adler mit Martin
Schmitt und Sven Hannawald, der ganzen Professionalität und der
Kommerzialisierung ist das Skispringen endgültig aus dem Dornröschenschlaf
gerissen worden. Da ist es kein Wunder, dass mittlerweile etwas die
Gemütlichkeit von damals fehlt. Früher gab es ausgelassene Eröffnungs- und
Abschlussfeiern. Heute bleibt für so etwas keine Zeit mehr. Das haben aber schon
zu meiner Zeit die alten Springer beklagt. Sie sind früher noch einfach zusammen
gesessen und haben selbst zur Ziehharmonika gegriffen, um sich zu
unterhalten.
Kommen wir zum finanziellen Aspekt...
Steiner: Am Anfang
meiner Karriere erhielten wir vom Schweizer Verband ein Taggeld von zehn
Franken, egal, ob Sieg oder Niederlage. Das ist natürlich kein Vergleich mehr zu
heute. Ich bin schon ein bißchen neidisch auf die heutigen Preisgelder. Wenn es
die damals schon gegeben hätte, dann hätte ich mir wirklich einen schönen
finanziellen Grundstock für das spätere Leben legen können. Ich will aber nicht
verschweigen, dass ich zum Ende meiner Karriere stark von der Schweizer
Sporthilfe unterstützt wurde und für Top-Plazierungen gab es außerdem etwas aus
dem Schweizer Skipool, den Sponsoren finanziert haben.
Gibt es heute mehr
gute Springer als früher?
Steiner: Heutzutage ist das Leistungsniveau der
Springer insgesamt viel höher, weil auch kleinere Nationen nicht nur einen viel
besseren Ausrüstungsstandard, sondern auch bessere Trainer und insgesamt bessere
Trainingsmöglichkeiten haben. Bei uns damals arbeiteten nur wenige Nationen auf
wirklich hohem Niveau. Die DDR natürlich und später zur Zeit von Baldur Preiml
auch die Österreicher, die plötzlich ein ganzheitliches Siegerdenken entwickelt
hatten. Dagegen waren wir anderen wie Waisenknaben. Das System der DDR, aber
auch die Vision der Österreicher machte es möglich, dass plötzlich Gelder für
den Skisprungsport frei wurden. Das trieb natürlich auch die Entwicklung des
Materials voran.
Apropos Material: In diesem Bereich waren Sie ja immer
ein Tüftler...
Steiner: Ja, ich habe zusammen mit meiner Ausrüsterfirmen
Kneissl, Uvex und Adidas immer nach neuen Ideallösungen gesucht, um das Springen
auch sicherer zu machen. Aber das war ein schwerer Weg, denn plötzlich war da
auch eine politische Komponente. Kneissl und Adidas hatten Ende der 70-er
beispielsweise beschlossen, endlich eine Bindung anzubieten, die für jedermann
käuflich war. Sie bestand aus einer DDR-Frontplatte und einem von den
Österreichern entwickelten Kontrollbügel. Der kontrollierte, wie weit der Ski
vom Schuh weg geht. Beide Teile waren einzeln schon seit über fünf Jahren im
Einsatz. Aber vor dem ersten Springen der Tournee in Oberstdorf wurde der
Kontrollbügel auf Druck der DDR verboten. Die Frontplatte der DDR-Springer, die
wurde aber nicht verboten. Da stehen mir heute die Haare zu Berge, wenn ich
daran zurückdenke. Nur gut, dass die Österreicher auch ohne diesen Bügel siegten
und damit den Glanz der Vierschanzentournee bewahrt haben.
Wie hat sich
das Skispringen seither entwickelt?
Steiner: Die Materialentwicklung ging
rasch vorwärts, auch ich konnte dazu in den folgenden Jahren stark beitragen.
Bei den Olympischen Spielen 1980 in Lake Placid sprangen 80 Prozent der
Skispringer auf Kneissl, wo ich auch Service-Mann war. Durch die breiteren Ski
und die luftdichten Anzüge haben sich dann fast intuitiv neue Flugtechniken
entwickelt. Es war plötzlich ein großer Vorteil, die Skier nicht mehr vor dem
Körper zu haben. Der V-Stil war dann die perfekte Lösung, um die Skispitzen vom
Oberkörper wegzubringen. Allein das brachte einem Springer mindestens sieben
Meter an Weite, die man quasi geschenkt bekam. Wenn man alle Verbesserungen
zusammenrechnet und auch die bessere Physis der Athleten mit einbezieht, ergeben
sich heute im Vergleich zu früher zehn bis 20 Meter weitere Sprünge. Doch mit
dem verbesserten Material wurden auf einmal die bestehenden Schanzenprofile
Mitte der 80-er Jahre untragbar. Es gab damals wirklich grauenhafte Stürze, weil
man die Weiten nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Es gab eine Zeit lang
keine normalen Wettkämpfe mehr, es musste immer wieder verkürzt und verlängert
werden. Zudem wurde die Tatsache, dass die Schanzentischgestaltung, aber auch
Ski und Anzüge die Leichtgewichte stark bevorteilte, lange Zeit allerdings nicht
ernstgenommen.
Haben Springer wie Sie da aktiv etwas bewirken
können?
Steiner: Bereits in den früheren 70-er Jahren, noch vor den ganzen
Materialverbesserungen, kontaktierte ich die Mitglieder der
Schanzenbaukommission mit klaren Vorschlägen, um einer Fehlentwicklung im
Schanzenbau entgegenzuwirken. Lado Gorišek aus Slowenien ging als erster auf
meinen Vorschlag ein, den Schanzenhang bereits abzuflachen, bevor der Radius zur
Auslauffläche beginnt. Das war der Schlüssel zum Erfolg. Es dauerte zwar noch
über zehn Jahre, aber Gorišek verwirklichte auf der alten kleinen Flugschanze
von Planica schließlich eine Revolution im Schanzenbau. Denn endlich waren die
Flugweiten wieder von der Jury kontrollierbar und die Springer konnten jetzt
ohne Angst den Radius anfliegen. So herrliche Springen und Fliegen wie in dieser
Zeit hatte es in den 70-er Jahren nie gegeben. Beim FIS-Kongress in Rio viele
Jahre später wurden das neue K-Punkt-Reglement und die geknickten
Übergangsflächen schließlich auch im FIS-Reglement verankert.
Wie
beurteilen Sie die heutige Situation?
Steiner: Es wäre ein Traum für mich,
heute mitspringen zu dürfen. Denn all die in den vergangenen Jahren eingeführten
Neuerungen habe ich lange eingefordert. Auch der vor ein paar Jahren eingeführte
Body Mass Index mit der Abhängigkeit der Skilänge von Gewicht und Körpergröße
der Athleten ist enorm wichtig. Ich habe das zwar nie öffentlich eingefordert,
aber mir schwebte damals etwas Ähnliches vor. Nur hätte ich nicht nur die
Skilänge, sondern die gesamte Skifläche, also auch die Breite der Ski in diesen
Index mit einbezogen.
Warum ist aus dem Visionär Walter Steiner nie der
FIS-Funktionär Walter Steiner geworden?
Steiner: Das lässt sich schwer sagen.
Meine damaligen Springerkollegen haben der FIS sogar vorgeschlagen, mich in eine
Materialkommission zu berufen, aber da kam vom Verband her nie eine Anfrage an
mich. Vielleicht lag es auch daran, dass ich in meiner Art sehr direkt bin und
nicht so diplomatisch wie andere. Teilweise war ich auch frustriert. Beim
FIS-Kongress 1980 in Innsbruck durfte ich meine Vorstellungen vom Schanzenbau
erläutern. Dort habe ich aufgezeigt, dass auf den Schanzenprofilen der 70-er
Jahre leichtgewichtige Springer gegenüber schwereren Athleten ganz klar im
Vorteil sind, weil ein schneller Übergang vom Radius auf den Tisch und insgesamt
ein kurzer Schanzentisch es großen und schweren Springer schier unmöglich
machte, einen dynamischen Absprung zu setzen. Weite Sprünge in einen
unberechenbaren Schanzenradius waren auch nur von leichten Springern zu stehen.
Man hat mich damals leider nicht verstanden.“
Wer von den heutigen
Springern beeindruckt Sie am meisten?
Steiner: Ganz klar solche Springer wie
Janne Ahonen, die über Jahre ihre Top-Qualität beweisen. Auch Jens Weißflog war
so einer. Beide haben bewiesen, dass sie auch Tiefschläge wegstecken können. Es
geht nicht darum, mal eine oder zwei Saisonen zu dominieren. Viel wichtiger ist
es, dass man auch nach einer Frustphase wieder hochkommt. Das habe ich auch von
mir immer wieder erwartet. Durch meine Knie- und Fußgelenkverletzungen hatte ich
mehrere solcher Phasen. Danach war ich aber meist wieder besser als davor. Das
ist mein Anspruch an einen Top-Sportler. Und es ist schön zu sehen, dass es die
noch gibt.
Über Walter Steiner:
Walter Steiner gehörte insgesamt zehn
Jahre lang (von 1968 bis 1978) der Schweizer A-Nationalmannschaft an und hatte
seine Glanzzeiten unter Erfolgstrainer Ewald Roscher. Er gewann nicht nur
zweimal die Skiflug-Weltmeisterschaften (1972 in Planica und 1977 in Vikersund),
sondern bei den Olympischen Spielen in Sapporo (1972) und bei der Skiflug-WM
1973 (Oberstdorf) auch jeweils die Silbermedaille. Beim Skifliegen im Allgäu
erreichte Steiner mit 179 Metern seine größte Weite, die er allerdings nicht
stehen konnte. Daher verpasste er den Sieg um einen halben Punkt, Gold gewann
Hans-Georg Aschenbach aus der DDR.
Insgesamt gewann Walter Steiner 38
internationale Skisprung- und Skiflug-Wettbewerbe, 66-mal schaffte er eine
Top-3-Plazierung. Der Schweizer stellte insgesamt zehnmal einen neuen
Schanzenrekord auf, 1974 stellte er bei der Skiflugwoche in Planica mit 169
Metern den Weltrekord von Heinz Wosipiwo (DDR) ein. Drei weitere Male erzielte
Steiner Weltbestweite, alle drei Sprünge konnte der Schweizer allerdings nicht
stehen.
Nach drei schweren Knieoperationen musste Walter Steiner seine
Wettkampflaufbahn nach der Saison 1978 beenden. Er arbeitete anschließend
zunächst drei Jahre lang im Sommer in seinem gelernten Beruf als Holz-Bildhauer
und im Winter als Servicemann für seine ehemaligen Ausrüsterfirmen Uvex, Adidas
und Kneissl. Dann wechselte Steiner zusammen mit seinem früheren Trainer Ewald
Roscher zum Deutschen Ski-Verband, wo er als Wachser und Servicemann tätig war.
Nach einer zweijährigen Episode als Assistenztrainer des Schweizer
Nationalteams ging Walter Steiner in die USA und arbeitete dort Mitte der
Achtziger als hauptamtlicher Trainer in Steamboat Springs. Seit 1990 lebt der
Schweizer zusammen mit seiner Frau Gunilla in Falun in Schweden.
Quelle: Pressemitteilung 55. Internationale Jack Wolfskin Vierschanzentournee