Auf Stelzen durchs Feuer: Fußballerin Linda Liedel über ihr Karriereende mit 19 Jahren
Archivmeldung vom 22.07.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićJuli 2022: Vor drei Jahren kreuzten sich ihre Wege in der U19-Nationalmannschaft, seitdem hätte die Karriere nicht unterschiedlicher verlaufen können: Während Sophia Kleinherne und Nicole Anyomi bei der Fußball-Europameisterschaft für die deutsche Nationalmannschaft auflaufen, betritt Linda Liedel keinen Fußballplatz mehr. Im Alter von 19 Jahren beendete die heute 22-Jährige nach mehreren Gehirnerschütterungen ihre Karriere.
Die Leidensgeschichte von Linda Liedel begann genau zu dem Zeitpunkt, als die Karriere der jungen, hochtalentierten Fußballerin eigentlich richtig Fahrt aufnahm: Die damalige Jugend-Nationalspielerin war im Sommer 2017 von ihrem Heimatverein TSV Schott Mainz in die USA gewechselt - in das Nachwuchsteam der Harvard University. Im September erzielte die Abwehrspielerin direkt ihr erstes Tor, sie lebte sich am College ein, alles schien wie gemalt.
Wenige Wochen später erlitt die damals 17-Jährige jedoch ihre erste Gehirnerschütterung. "Ich wurde in der Schlussviertelstunde eingewechselt, war hoch motiviert", erinnert sie sich. "Wir führten mit 1:0, die gegnerische Stürmerin holte zum Schuss aus, ich stürze ihr entgegen. Bam." Nach kurzer Verwirrung spielte Liedel weiter, auf der Rückfahrt wurde ihr schlecht. "Am nächsten Tag", das weiß sie noch, "lief ich wie auf rohen Eiern." Nach zwei Wochen Pause stand sie wieder auf dem Feld.
In der darauffolgenden Saison erwischte es die Abwehrspielerin immer wieder - und ausgerechnet im Endspurt um die Meisterschaft besonders heftig. Ihre Mannschaft hatte einen Rückstand gedreht und lag 3:2 in Führung. Liedel ging zum Kopfball hoch - und bekam den Ellenbogen der Gegenspielerin ins Gesicht. Verwirrung, Übelkeit, Kopfschmerzen: Es war ein Déjà-vu für Liedel.
An eine Pause war jedoch nicht zu denken. "Meine Trainer waren frustriert, redeten auf mich ein und überzeugten mich, eine Woche später wieder aufzulaufen", beschreibt sie. "Ich hatte ein mulmiges Gefühl, aber ich habe gespielt." Ihr Team verlor trotz ihres Einsatzes. "Beim Auslaufen am nächsten Tag würdigten mich meine Trainer keines Blickes, derweil tanzte ich auf Stelzen durchs Feuer", schrieb sie später selbst über diese Zeit.
Nach einer mehrwöchigen Pause kehrte Liedel auf den Fußballplatz zurück - trotz der inzwischen allgegenwärtigen Zweifel. "Ich hatte innerlich Angst; gerade, wenn im Training mehr geköpft wurde", erinnert sie sich. "Jede Berührung am Kopf löste Panik aus." Bei einer Maßnahme mit der U19-Nationalmannschaft stieß sie mit einer Gegenspielerin zusammen, Kopf gegen Kopf. Ihre Gegenspielerin musste ins Krankenhaus, auch Liedel ging es - erneut - nicht gut.
Und diesmal blieben die Symptome. "Ich war licht- und geräuschempfindlich, hatte ständig Kopfschmerzen und konnte mich nicht mehr konzentrieren", beschreibt sie. Das Pensum am College stemmte sie nur noch mühsam, vom Training ging es direkt an den Laptop. "Es hat alles nicht mehr funktioniert, wie ich das wollte. Ich hatte weder Spaß an den Aufgaben noch Spaß an sozialer Interaktion. Ich habe mich irgendwie von Aufgabe zu Aufgabe gerettet. Das zu erleben, wünsche ich niemandem."
In der Vorbereitung auf die neue Saison war es die Tür des Wäschetrockners, welche die Karriere von Liedel endgültig beendete. "Ich wollte die Wäsche aus der Trommel nehmen und habe mich beim Aufrichten gestoßen", sagt sie. "Am nächsten Tag konnte ich nicht aufstehen, es hat sich alles gedreht. In diesem Moment wusste ich: Ich kann das nicht mehr." Mit gerade einmal 19 Jahren entschied sich Liedel, nicht mehr auf den Fußballplatz zurückzukehren. "Ich konnte mit der dauernden Sorge, der dauernden Angst um meine Gesundheit nicht mehr leben."
Ihre Familie und ihr Umfeld nahmen die Entscheidung positiv auf "Die Menschen, die mich gut kennen, haben mich sofort unterstützt - sie haben verstanden, dass es langfristig nicht gesund für mich ist", sagt sie. Der Teammanager der deutschen Juniorinnen äußerte ebenfalls seinen Respekt vor der Entscheidung, ihre Trainer am College waren hingegen vor den Kopf gestoßen. "Sie waren geschockt und überfordert", beschreibt Liedel. "Von einer Sekunde auf die andere wurde ihnen bewusst, dass sie in den vergangenen Monaten etwas falsch gemacht haben könnten - und dass das jetzt Konsequenzen hat."
Mit ihrer Entscheidung stach Liedel in ein Wespennest, denn der Umgang mit Kopfverletzungen ist ein sensibles Thema im Leistungssport. Jahrelang wurde die Debatte von der amerikanischen National Football League (NFL) geprägt, inzwischen hat sie auch den Fußball erreicht. Am Sonntag (24. Juli, 17:10 Uhr) strahlt das ZDF eine sportstudio reportage unter dem Titel "Milliardengeschäft Fußball - Streitfall Kopfball" aus.
"Leistungssport ist ein knallhartes Geschäft mit Körpern", sagt Liedel, die in der Dokumentation ebenfalls zu Wort kommt, inzwischen. Der Druck, unter dem die Sportlerinnen und Sportler stehen, ist immens. "Die Entscheidung liegt letztendlich bei dir und das macht es extrem schwierig", sagt sie. "Als Athletin weißt du genau, wie lange der Arzt dich rausnimmt, wenn du ihm dieses oder jenes Symptom schilderst. Spielst du die Kopfschmerzen herunter, bist du schneller wieder dabei, als wenn du offen sagst: Ich habe eine Gehirnerschütterung."
Der eigene Ehrgeiz ist dabei manchmal der gefährlichste Berater. "Du trainierst monatelang dreimal am Tag gemeinsam mit deinem Team für eine Saison von acht bis zwölf Wochen - da willst du deine Mannschaft im entscheidenden Spiel nicht hängenlassen", schildert Liedel. "Auch ich habe im Nachhinein deswegen falsche Entscheidungen getroffen und wider besseres Wissen gespielt, obwohl es mir nicht gut ging."
Bei der ZNS - Hannelore Kohl Stiftung, die sich mit der Initiative "Schütz Deinen Kopf!" für die Sensibilisierung und Prävention von Gehirnerschütterungen im Sport" einsetzt, hört man solche Geschichten immer wieder. "Die Spielerinnen und Spieler sind alle mit viel Leidenschaft dabei, sie wollen spielen und stellen dafür ihre eigene Gesundheit hintenan", sagt Geschäftsführerin Helga Lüngen. "Umso wichtiger ist es, dass Trainer:innen um die Gefahr von Gehirnerschütterungen wissen und ihre Spieler:innen schützen. Der sportliche Erfolg darf nicht über der Gesundheit stehen."
Auch Liedel wünscht sich einen offenen Umgang mit dem Thema Gehirnerschütterungen. "Ich will mit meiner Geschichte keine Panik verbreiten, ich will lediglich ein Bewusstsein schaffen, damit es andere Spielerinnen einfacher haben als ich", betont sie. "Für Menschen, die nicht selbst in dieser Situation waren, die nicht selbst die Folgen von Gehirnerschütterungen erlitten haben, ist es schwierig nachzuvollziehen - und wenn man spürt, dass man mit seinen Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen wird, ist das umso frustrierender."
Ihr Ratschlag an alle Betroffenen ist klar: "Hört auf euer Bauchgefühl und sprecht mit anderen Sportlern, die diese Erfahrung gemacht haben. Das hilft sehr", wirbt sie. Die Probleme zu ignorieren, sei hingegen keine Lösung - im Gegenteil. "Wenn ich früher vorsichtiger gewesen wäre, lieber einmal nicht gespielt oder eine längere Pause gemacht hätte, könnte ich heute vielleicht noch auf dem Feld stehen", sagt Liedel. "Ich kann also nur raten: Seid euch gegenüber ehrlich und steht zu euch. Der Leistungssport ist ein wichtiger Teil des Lebens, das war er auch für mich, aber es gibt immer ein Leben außerhalb des Sports - und sich das kaputtzumachen, ist keine Meisterschaft der Welt wert."
Quelle: ZNS - Hannelore Kohl Stiftung (ots)