Glücksspiel Fußball?
Archivmeldung vom 22.05.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 22.05.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWelcher Fußballfan kennt dieses Phänomen nicht: Da spielt die eigene Mannschaft drückend überlegen, erspielt sich Chancen, erzielt aber kein Tor. Kurz vor Schluss haut der Gegner einfach einmal drauf, und durch eine Verkettung unglücklicher Umstände - Platzverhältnisse, Torwartfehler, Abpraller etc. - landet der Ball zum Sieg im Tor.
Anhand der Analyse von über 600 Erstliga-Toren des Jahres 2005 sind der Augsburger Sportwissenschaftler Prof. Dr. Martin Lames und sein studentischer Mitarbeiter Alex Rössling zu dem Ergebnis kommen, dass in rund 40 von 100 Fällen, in denen der Ball im Tor landet, der Zufall eine entscheidende Rolle gespielt hat; und dass der Zufall insofern eben keineswegs eine zu vernachlässigende Größe ist, sondern ein wichtiger Faktor, der von Trainern und Spielern stärker ins Kalkül gezogen werden sollte.
Die wissenschaftliche Untersuchung von Zufallsphänomenen im Fußball sei eines seiner Steckenpferde, bekennt Lames: "Die Trainingswissenschaft interessiert sich für die Leistungsstruktur in den einzelnen Sportarten. Die praktische Erfahrung lehrt, dass diese im Fußball auch durch den Zufall mitbestimmt wird. Das fordert dazu heraus, den Einfluss des Zufalls zu messen".
ZUFALLSMERKMALE
Zu diesem Zweck hat Lames ein
Beobachtungssystem entwickelt, mit dem man erfasst wird, ob beim Zustandekommen
von Toren Zufallsmerkmale im Spiel sind, Merkmale also, die ein nicht geplantes,
nicht kontrollierbares Zustandekommen eines Tores beschreiben. Das ist etwa der
Fall, wenn ein Abpraller verwandelt oder die Flugbahn des Balles abgefälscht
wird, wenn der Ball vom Pfosten ins Tor und nicht ins Feld zurück springt oder
der Torwart noch eine deutliche Ballberührung hat, schließlich auch wenn das Tor
aus großer Entfernung erzielt wurde oder die Abwehr unmittelbar vor dem Tor noch
eine Ballberührung hatte.
"TAGELANGE SPORTSCHAU"
Im Fernsehen
aufgezeichnet, flossen 638 Tore europäischer Erstligen aus dem Jahr 2005 in die
Untersuchung ein, vorwiegend aus Deutschland, Italien, Spanien, England,
Frankreich und den Niederlanden. "Ich hatte schon unangenehmere Arbeiten am
Institut für Sportwissenschaft zu erledigen, als diese tagelange Sportschau
durchzustehen", meint Alex Rössling, der die Aufgabe hatte zu prüfen, ob bei all
diesen Toren eines der definierten Zufallsmerkmale vorlag.
FERNSCHÜSSE
UND ABWEHRBETEILIGUNG IM MITTELPUNKT
Die Ergebnisse sind erstaunlich: Bei
248 Toren wurde Rössling fündig und konnte die Beteiligung mindestens einer
Zufallsvariablen feststellen. 38,9 Prozent aller Tore kamen in dieser
Untersuchung also auf eine Art und Weise zustande, die nicht planbar oder so
nicht geplant war. Dabei erwiesen sich im Einzelnen die Torwartberührung (8,0
Prozent) und die verwandelten Abpraller (7,5 Prozent) als recht häufig, vor
allem aber die Fernschüsse mit 12,4 Prozent und die Abwehrbeteiligung mit 14,1
Prozent fallen ins Gewicht. "Bei den Fernschüssen", kommentiert Lames, "ist
davon auszugehen, dass der Torwart sie unter normalen Umständen halten würde,
dass er sie aber durch zufällige Umstände passieren lassen - z. B. aufgrund
verdeckter Sicht, aufgrund einer Abfälschung des Balls oder aufgrund
überraschenden Aufsetzens oder Flatterns." Die Abwehrbeteiligung reicht vom
klassischen Eigentor (3,6 Prozent) über das "Auflegen" für den Schützen bis hin
zum Verlust des Balles an den Assistgeber.
Im Vergleich zu früheren
Untersuchungen aus den Jahren 1994, 1999 und 2004 (EM), die einen Zufallsanteil
zwischen 44 und 48 Prozent ergaben, zeigt die aktuelle Untersuchung einen
Rückgang. "Während sich die übrigen Zufallsmerkmale fast als Naturkonstanten
erweisen, ist dieser Rückgang vor allem auf eine geringere "Abwehrunterstützung"
zurückzuführen", erläutert Lames. Ob dieser Trend auf den neuen Abwehrtaktiken
beruht, könne man jetzt allerdings noch nicht entscheiden.
EINE REGULÄRE
EINFLUSSGRÖSSE
Lames räumt ein, dass mit dieser Untersuchungsreihe
lediglich in der Praxis ohnehin verbreitete Annahmen mit wissenschaftlichen
Methoden gemessen und als quantitatives Ergebnis dargestellt wurden. Auch seinen
ausgelassene Torchancen, also Zufallseinflüsse beim Nicht-Zustandekommen von
Toren, hier nicht berücksichtigt worden, da sie nur sehr schwer zu objektivieren
seien. Unabhängig davon stehe aufgrund dieser Untersuchungen für die Theorie der
Leistungsstruktur im Fußball aber fest, "dass der Zufall als reguläre
Einflussgröße zu betrachten ist; man kann in jedenfalls nicht, wie das bislang
meist geschehen ist, als eine Größe betrachten, die zu vernachlässigen
ist."
DEN ZUFALL (EIN)PLANEN
So paradox dies klinge: für Trainer
und Spieler wäre es sehr sinnvoll, meint Lames, den Faktor Zufall stärker in
ihre Berechnungen einzubeziehen, denn: "Nicht nur geplante Spielzüge führen zum
Erfolg, vielmehr resultiert das Tor signifikant oft aus dem nicht
Vorhersehbaren. Deshalb geht es nicht nur darum, schematisch Angriffe
vorzutragen, es gilt vielmehr auch, einfach Unordnung herzustellen, etwas zu
riskieren und sich auf Unvorhergesehenes einzustellen. Bestes Beispiel hierfür
ist der 'Torriecher', der einigen Spielern attestiert wird und den man
annäherungsweise mit der Fähigkeit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu
stehen. Aufgrund unserer Ergebnisse darf man dies mit Fug und Recht als
besonders angemessenen Umgang mit dem Zufall im Spiel bezeichnen."
DAS
SALZ IN DER SUPPE
"Für Wissenschaftler und für die Akteure auf dem Platz,
die das Spiel gerne erklären bzw. kontrollieren würden, mag der Zufall weniger
erfreulich sein", resümiert Lames, "aber für den Stellenwert des Fußballs bei
Zuschauern und Medien, für seinen Unterhaltungswert und für den Spannungsgehalt
einer Partie ist dieser hohe Zufallsanteil bei den relativ wenigen Toren im
Fußball geradezu das Salz in der Suppe." Ob er denn dann auf einen hohen
Zufallsanteil bei der anstehenden Weltmeisterschaft hoffe? "Natürlich! Erstens
sind Zufallstore immer spektakulär und zweitens könnte ja Deutschland dieses Mal
besonders davon profitieren."
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.