100 Tage Jürgen Klinsmann bei den Bayern - Eine Bilanz
Archivmeldung vom 06.10.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakJürgen Klinsmann ist nun seit nunmehr 100 Tagen Trainer beim FC Bayern München. Nach sieben Spielen erreichte er mit seiner Mannschaft neun Punkte und 13 Gegentreffer, was Tabellenplatz elf bedeutet. Dies ist der schlechteste Bundesligastart des FC Bayerns seit 31 Jahren
Sieben Spiele, neun Punkte, 13 Gegentore und Tabellenplatz elf: Jürgen Klinsmanns 100-Tage-Bilanz könnte ernüchternder kaum sein. Seit 31 Jahren hat es beim erfolgsverwöhnten FC Bayern München so einen Negativstart in der Bundesliga nicht mehr gegeben. Beim deutschen Fußball-Rekordmeister kriselt es, doch Jürgen Klinsmann lächelt seine schwache Ausbeute einfach weg. "Das ist ein Prozess" beschwichtigt der Trainer, der am Dienstag 100 Tage im Amt ist. Die Bayern-Bosse trotzen der Enttäuschung in seltener Einigkeit. Präsident Franz Beckenbauer mahnte in seiner "Bild"- Kolumne zur Geduld, Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge sprach Klinsmann das "volle Vertrauen aus", und Manager Uli Hoeneß reagiert nur genervt auf die K-Frage: "Die Bilanz sage ich Ihnen am 30. Juni, da ist unser Geschäftsjahr zu Ende."
Ein erstes Resümee von Klinsmanns Probezeit zog dagegen Oliver Kahn. "Es ist nicht ungefährlich. Jeder Verein hat eine eigene Philosophie, an der man ein bisschen drehen kann, aber die man nicht völlig über den Haufen werfen kann", übte der Ex-Kapitän versteckte Kritik an Klinsmann Reformkurs. Mittelfeldspieler Zé Roberto stellte im Fachmagazin "kicker" (Montag) die ständigen Personalrochaden in der Abwehr infrage: "Hinten spielten immer wieder andere Partner. Im vorigen Jahr haben wir mit zwei festen Innenverteidigern gespielt, mit Lucio und Demichelis."
"Ami go home"
Nach dem Stotterauftakt in der Liga und den wenig glanzvollen Auftritten in der Champions-League, in der die Bayern mit vier Punkten aber immerhin im Soll sind, ist für die Fans längst das Maß voll. "Ami go home", forderten sie Klinsmann unlängst zur Rückkehr in seine kalifornische Wahlheimat auf. Beckenbauer registriert, dass "der Mythos, dass am Ende doch (fast) immer die Bayern gewinnen, Pause macht" und stellt besorgt fest: "Die Liga spürt, dass wir im Moment verwundbar sind." Klinsmann, vor 100 Tagen als Wohltäter in der schönen, neuen Bayern-Welt begeistert empfangen, steckt in der Sackgasse.
Er spürt, dass ihm ein stürmischer Herbst bevorsteht, aber er geht offen mit der für ihn heiklen Situation um und sagt: "Letztendlich muss der Trainer seinen Kopf hinhalten, wenn die Dinge nicht so umgesetzt werden, wie man sie den Spielern aufgibt." Die Spieler scheinen mit der Umsetzung von Klinsmanns Fußball-Einmaleins überfordert zu sein. In beinahe wildem Aktionismus will der 44- Jährige seine Visionen vom perfekten Fußball den Bayern einimpfen, doch heraus kamen bisher bittere Lektionen für den früheren Bundestrainer, der in München erstmals als Vereinscoach tätig ist.
Konfuser Gesamteindruck
Klinsmann will in München seine Reformen mit aller Macht durchsetzen. Im Millionen Euro teuren Leistungszentrum, wo er seine Schützlinge mit Hilfe eines elfköpfigen Trainerstabs in Acht-Stunden- Tagen zu rundum gebildeten Menschen formen will, hat er so viel umgekrempelt, dass Rummenigge von einer "neuen Kultur in der Bundesliga" schwärmt. Auf dem Platz aber hinterließen Klinsmanns löbliche Absichten bisher viel Ratlosigkeit und einen konfusen Gesamteindruck.
Klinsmann baute Buddhas auf und wieder ab, experimentierte erfolglos mit diversen Spielsystemen, rotierte ohne Rücksicht auf Namen und Positionen in die Krise und schuf mit der Demontage von Kapitän Mark van Bommel offenbar ohne Not einen Konfliktherd. "Ein Kapitän, der auf der Bank sitzt, kann nicht die Rolle ausfüllen, die er sollte. Mark ist in seiner Funktion geschwächt", äußerte Kahn Unverständnis. Der Niederländer dürfte die kommenden Tage bei seinem Nationalteam genießen. Klinsmann, in München so kritisch wie kaum einer seiner Vorgänger beäugt, und der FC Bayern können die Länderspielpause für ausführliche Analysen nutzen.
Die von Beckenbauer angesprochenen Schwachpunkte wie mangelndesZweikampfverhalten oder seine leise Kritik an Torwart Michael Rensing, bei dem er sich eine "ähnliche Ruhe wie bei Oliver Kahn" erhofft, sind für Klinsmann nichts Neues. "Dass es uns ärgert und wurmt, darüber brauchen wir nicht zu reden", meinte der Coach, "jetzt müssen wir damit umgehen, und ich glaube, dass es die Mannschaft ein Stück stärker machen wird."