10.000 Bürger überwacht
Archivmeldung vom 25.07.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 25.07.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Oliver RandakÜberwachungsskandal um die Ermittlungen zum Oldenburger Holzklotz-Anschlag: Um den Täter zu finden, hat die ermittelnde Sonderkommission Mobilfunk-Daten von bis zu 10.000 Bürgern ausgewertet. Der Fall zeigt, wie selbstverständlich die Möglichkeiten der Vorratsdatenspeicherung schon jetzt von den Beamten ausgenutzt werden.
Bereits am Morgen nach dem tödlichen Angriff, bei dem eine Frau durch
einen von einer Brücke gestoßenen Holzklotz ums Leben kam, beantragte
die Polizei den Zugriff auf alle möglicherweise nützlichen
Verbindungsdaten. Die Maßnahme wurde von der zuständigen
Ermittlungsrichterin, die sie absegnen muss, als "unerlässlich"
bezeichnet - obwohl die Polizei gerade erst am Beginn ihrer
Ermittlungen stand und keine Übersicht über die möglichen Spuren haben
konnte.
Ein Techniker vermaß extra die Standorte und Reichweiten der Funkmasten
in der Region neu. Da Handies ähnlich wie Peilsender regelmäßig
Ortungssignale abgeben, lassen sich mit den gesendeten Daten genaue
Bewegungsprofile erstellen - zu den Informationen gehört nämlich auch
der Abstrahlwinkel der Antenne zum Mast.
Der Tatort liegt im Einzugsbereich von "Mast Nr. 12", alle Handys in
einem Bereich von 1,3 Kilometern nördlich der Autobahnbrücke und 1,8
Kilometern in westlicher Richtung werden von dort erfasst. Die
Ermittler erstellten daraufhin eine Liste mit allen Gesprächen, die am
23. März 2008 zwischen 17 und 22 Uhr in diesem Gebiet von gut zwei
Quadratkilometern geführt wurde. Insgesamt umfasst die Datenbank der
Ermittler 12.927 Einträge.
Mit der Zeit gerieten Dutzende Menschen in den Verdacht, die Tat
begangen zu haben. Es waren vor allem Jugendliche, weil Zeugen eine
Gruppe von fünf jungen Leuten in der Nähe des Tatorts gesehen haben
wollten. Sie wurden ab diesem Moment vollüberwacht - die eigenen
Telefone ebenso wie die der Eltern, teilweise auch noch deren
Arbeitgeber.
Derweil arbeitete die Polizei mit den Verbindungsdaten von tausenden
unschuldigen Bürgern. Wahrscheinlich ohne rechtliche Grundlage: Laut
Gesetz müssen "bestimmte Tatsachen" den Verdacht begründen, dass jemand
eine schwere Straftat begangen hat. Vorher darf nicht auf die mittels
Vorratsdatenspeicherung erhobenen Daten zugegriffen werden, entschied
das Bundesverfassungsgericht im März. In diesem Fall reichte den
Ermittlern augenscheinlich die Annahme, dass der Täter telefoniert
haben könnte, als "bestimmte Tatsache".
"Hier wurde etwas ganz anderes getan, als es im Gesetz vorgesehen ist",
sagt Andy Müller-Maguhn, der den Fall für den Chaos Computer Club
untersucht hat. "Es wurden die Verbindungsdaten Tausender unschuldiger
Bürger nach Zusammenhängen mit der Straftat durchsucht."
Dabei werde jeder verdächtig, der sich zur falschen Zeit am falschen
Ort aufgehalten habe, sagt Müller-Maguhn und nennt das die "effektive
Abschaffung der Unschuldsvermutung".
Der Bielefelder Staatsrechtsprofessor Christoph Gusy spricht von einer
"rechtlichen Grauzone" und einem "Bereich, der juristisch nicht
wirklich definiert ist".
Die bisherige Rechtsprechung verweist dabei immer wieder auf die
Verhältnismäßigkeit von Überwachungsmaßnahmen, die gewahrt bleiben
müsse. Hier geht es immerhin um 10.000 Bürger, die als
Kollateralschaden überwacht wurden. "Der zur Begründung genannte
Paragraf der Strafprozessordnung ist für eine solche Form der
Breitbandaufklärung nicht geschaffen", urteilt Gusy. "Das Vorgehen der
Polizei ähnelt eher einer Rasterfahndung."
Auch die Anwälte des mutmaßlichen Täters Nikolai H. wollen sich gegen
die Ermittlungstaktik der Polizei wehren. Die hatte am Ende tatsächlich
ein klein wenig dazu beigetragen den jetzigen Hauptverdächtigen zu
belasten: Nachdem sich H. gestellt hatte, fanden die Oldenburger
Ermittler heraus, dass er tatsächlich um 20:06 - wenige Minuten nach
dem Verbrechen - nahe der Brücke mit einem Bekannten telefoniert hatte.
Trotzdem finden H.'s Rechtsanwälte Matthias Koch und Andreas Schulz das
Vorgehen der Polizei in diesem Fall nicht gerechtfertigt. Er habe
nichts gegen intensive Ermittlungen, sagt Koch, "aber sie sollten
rechtsstaatlich korrekt sein". Notfalls wollen die Anwälte diese Sache
durch alle Instanzen klagen - und so ein Exempel dafür statuieren, wie
weit die Strafverfolger in der Nutzung moderner Technik gehen dürfen.
Interessant wird dieser Fall nicht erst dadurch, dass auch das
Bundesverfassungsgericht ein Auge auf die Entscheidung haben dürfte.
Schließlich geht es um die Daten aus der Vorratsdatenspeicherung, über
die in Karlsruhe auch noch abschließend gerichtet werden muss.