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Berlin droht nach Urteil Rückfall in die Rezession

Archivmeldung vom 19.10.2006

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.10.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Das Scheitern der Berliner Verfassungsklage auf Sanierungshilfen kann die Hauptstadt bereits im kommenden Jahr wieder in die Rezession stürzen.

"Das Risiko ist hoch, dass Berlin jetzt wieder negative Wachstumsraten hat", sagte Christian Dreger, Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dem Tagesspiegel (Freitagausgabe). Bisher hatte das DIW für das kommende Jahr 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum in Berlin erwartet.

Der Begriff Rezession ist definiert als zwei aufeinander folgende Quartale schrumpfender Wirtschaftsleistung. Da schon die Mehrwertsteuererhöhung das erste Quartal des kommenden Jahres in Berlin ins Minus reißen dürfte, könnten zusätzlichen Sparanstrengungen des Senats schnell zu einer solchen technischen Rezession führen, sagte Dreger. "Eine Senkung der öffentlichen Ausgaben wirkt negativ auf die Entwicklung der Produktion, weil die Nachfrage fehlt."

Quelle: Pressemitteilung Der Tagesspiegel


Anmerkung der Redaktion (Für Interessierte nachfolgend das komplette Urteil)

Der Normenkontrollantrag des Landes Berlin hatte keinen Erfolg. Die angegriffenen Regelungen in § 11 Abs. 6 Finanzausgleichsgesetz und Art. 5 § 11 Solidarpaktfortführungsgesetz sind mit der Verfassung vereinbar, soweit für Berlin für die Jahre ab 2002 zum Zweck der Haushaltssanierung keine Bundesergänzungszuweisungen gewährt werden. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 19. Oktober 2006. Ein bundesstaatlicher Notstand lasse sich für das Land Berlin derzeit nicht feststellen; es befinde sich nicht in einer extremen Haushaltsnotlage. Aussagekräftige Indikatoren auf der Basis verlässlicher Datengrundlagen ließen lediglich eine angespannte Haushaltslage für das Land Berlin erkennen, die es mit großer Wahrscheinlichkeit aus eigener Kraft überwinden könne. (Zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilung Nr. 18/2006 vom 10. März 2006)

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Sanierungspflichten des Bundes und korrespondierende Ansprüche eines notleidenden Landes erweisen sich nach Zweck und Systematik des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG als Fremdkörper innerhalb des geltenden bundesstaatlichen Finanzausgleichs. Sie geraten mit dem Grundsatz eigenständig und eigenverantwortlich zu bewältigender haushaltspolitischer Folgen autonomer Landespolitik in Konflikt. Zwar muss die vorangegangene Kreditfinanzierung nicht notwendig als autonome Landespolitik zu qualifizieren sein. Als grundsätzlich alternative Ursache für die aktuelle Notlage kommt auch eine nicht hinreichend aufgabengerechte Finanzausstattung in der Vergangenheit in Betracht. Diese alternativen grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten begründen aber das spezifische Dilemma der Bewältigung des Sanierungsbedarfs eines Landes mit Hilfe des Instruments der Bundesergänzungszuweisungen: Sind die Kreditaufnahmen in der Vergangenheit Folge unzureichender Finanzausstattung des Landes, so führt die Sanierung durch Bundesergänzungszuweisungen zu einem Ergebnis, das Zweck und Systematik des Finanzausgleichs widerspricht; denn es geht in der Sache um die Notwendigkeit, Defizite regulärer Ausgleichsmaßnahmen nachträglich zu beheben. Aus dieser Perspektive begründet die Anerkennung von Bundesergänzungszuweisungen als Sanierungsinstrument die Gefahr, notwendige durchgreifende Lösungen, etwa durch Änderung des Schlüssels der Umsatzsteuerverteilung oder durch angemessene Berücksichtigung von Sonderbedarfen eines Landes, aufzuschieben oder zu unterlassen. Im anderen Fall, wenn die früheren Kreditaufnahmen nicht aufgabenbedingt notwendig waren, wird eine nicht durch objektive Aufgaben erzwungene übermäßige Ausgabenpolitik eines Landes honoriert, was sich ebenfalls offenkundig außerhalb der Zwecke des bundesstaatlichen Finanzausgleichs bewegt.

2. Weil und soweit Situationen eintreten, in denen die verfassungsrechtlich gebotene Handlungsfähigkeit eines Landes anders nicht aufrecht zu erhalten ist, ist bundesstaatliche Hilfeleistung durch Mittel zur Sanierung als ultima ratio erlaubt. Dies ist nur dann verfassungsrechtlich zulässig und geboten, wenn die Haushaltsnotlage eines Landes relativ – im Verhältnis zu den übrigen Ländern – als extrem zu werten ist. Außerdem muss sie absolut – nach dem Maßstab der dem Land verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben – ein so extremes Ausmaß erreicht haben, dass ein bundesstaatlicher Notstand im Sinne einer nicht ohne fremde Hilfe abzuwehrenden Existenzbedrohung des Landes als eines verfassungsgerecht handlungsfähigen Trägers staatlicher Aufgaben eingetreten ist. Dies setzt voraus, dass das Land alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass sich eine Bundeshilfe als einzig verbliebener Ausweg darstellt. Das Land trägt insoweit die Darlegungs- und Begründungslast.

3. Aussagekräftige Indikatoren für die Ermittlung extremer Haushaltsnotlagen sind: Die Kreditfinanzierungsquoten der jeweiligen Haushalte, die das Verhältnis zwischen Netto-Kreditaufnahme und den Einnahmen und Ausgaben des Haushalts ausweisen. Sie können erste Anzeichen für eine übermäßige Zinsausgabenlast des betroffenen Landes sein. Mit der Zins-Steuer-Quote lässt sich abbilden, welcher Teil der Steuereinnahmen von vornherein nicht zur Finanzierung von Aufgaben zur Verfügung steht, da er für Zinsausgaben anzusetzen ist, soweit deren Deckung nicht einer entsprechend erhöhten Nettoneuverschuldung zugeordnet werden soll. Ein weiteres geeignetes Hilfsmittel, um die Leistungsfähigkeit einer Haushaltswirtschaft zu beurteilen, ist die Primärsaldenbetrachtung. Mit den Primärausgaben werden die Kernausgaben eines Landes dargestellt, die den Personal-, Sach- (ohne Zinsausgaben) und Investitionsaufwand abbilden. Die Primäreinnahmen sind als Einnahmen zu verstehen, die um die Erlöse aus der Veräußerung von Vermögen und um die Nettokreditaufnahme vermindert werden. Die Differenz aus Primäreinnahmen und Primärausgaben ist der Primärsaldo. Je größer der Primärüberschuss, desto mehr haushaltswirtschaftliche Spielräume bestehen.

4. Auf der Grundlage dieser Indikatoren lässt sich eine Haushaltslage des Landes Berlin, die einen bundesstaatlichen Notstand begründen könnte, nicht erkennen. a) Die Kreditfinanzierungsquoten der Länder von 1995 bis 2004 machen zwar deutlich, dass die Berliner Werte – ausgenommen die der Jahre 1996 und 1997 – deutlich über dem Doppelten des Länderdurchschnitts gelegen haben. Bezogen auf die Zahl der Einwohner bewegt sich die Berliner Nettokreditaufnahme sogar zwischen dem 2,79 bis 5,6-fachen über dem Länderdurchschnitt. Das im Jahr 1992 vom Bundesverfassungsgericht beispielhaft für eine (einfache) Haushaltsnotlage herangezogene Indiz des „Doppelten über der länderdurchschnittlichen Kreditfinanzierungsquote“ ist danach zwar überwiegend erfüllt. Ohne Berücksichtigung weiterer Indikatoren lassen die Relationen gerade dieser Quoten allerdings noch keine Schlüsse auf eine extreme Haushaltsnotlage zu. b) Die Zins-Steuer-Quoten der Berliner Haushalte in den Jahren 1995 bis 2004 sind Ausdruck zunehmender Haushaltsengpässe, ohne allerdings die Schwelle zum bundesstaatlichen Notstand zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1992 eine Überschreitung der Länderdurchschnitte der Zins-Steuer-Quote zumindest um 71,7 v.H. als ein Kriterium zur Feststellung (extremer) Haushaltsnotlagen in zwei konkreten Einzelfällen herangezogen. Von einer dort für das Saarland und Bremen zusätzlich festgestellten über Jahre hinweg andauernden Überzeichnung der länderdurchschnittlichen Zins-Steuer-Quote in diesen erheblichen Dimensionen kann jedoch für Berlin keine Rede sein. Die größte negative Abweichung der Zins-Steuer-Quote zum Länderdurchschnitt liegt in der Spitze bei rund 56 v. H. c) Die Betrachtung der Primärsalden in dem Zeitraum zwischen 1995 und 2004 führt zu der Erkenntnis, dass fast alle Länder Schwierigkeiten hatten, die laufenden Ausgaben mit den laufenden Einnahmen zu decken: Vermögensveräußerungen und Nettokreditaufnahmen sind in einem zum Teil erheblichen Ausmaß zur Deckung der Kernausgaben notwendig gewesen. Berlin ist es zwar von 1995 an in keinem Jahr gelungen, einen Primärüberschuss zu erzielen. Indessen zeigen Betrachtungen der Primäreinnahmen und –ausgaben, dass die Berliner Haushaltswirtschaft sich nicht in einer vom Länderdurchschnitt deutlich negativ abweichenden Lage befindet.

5. Abgesehen davon, dass für die Berliner Haushaltswirtschaft schon eine extreme Haushaltsnotlage nicht festzustellen ist, bestehen erfolgversprechende Möglichkeiten, aus eigener Kraft die vorhandenen Haushaltsengpässe zu bewältigen. Es ist dem Berliner Senat nicht gelungen, die Alternativlosigkeit von Sanierungshilfen hinreichend plausibel zu begründen. Der Antragsteller hat insbesondere nicht dargelegt, dass die Berliner Haushaltswirtschaft keine ausreichenden Konsolidierungspotentiale enthält.

a) Die Grobbetrachtung der Einnahmen und Ausgaben Berlins führt zu dem Schluss, dass die Haushaltsprobleme Berlins im Schwerpunkt nicht auf der Einnahmenseite, sondern auf der Ausgabenseite liegen. Trotz der guten bis überdurchschnittlichen Höhe der Einnahmen haben etwaige Konsolidierungsbemühungen es jedenfalls in dem Zeitraum zwischen 1995 und 2004 nicht vermocht, die hohen Ausgaben zu reduzieren. Bereits auf Grund dieser globalen Betrachtung sind noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotentiale in erheblichem Umfang zu vermuten.

b) In dieselbe Richtung weist ein Stadtstaatenvergleich für einzelne Ausgabenblöcke mit Hamburg. Hier zeigen sich Mehrausgaben Berlins gegenüber Hamburg von eindruckvollen Ausmaßen. Das gilt trotz abnehmender Tendenz für die Bereiche „Hochschulen“ sowie „Wissenschaft etc. außerhalb der Hochschulen“ mit zusammengerechnet über 112 Mio. € im Jahr 2003, aber auch für „Kulturelle Angelegenheiten“ mit einem Mehr gegenüber Hamburg von 362 Mio. € im Jahr 2001 und immerhin noch 132 Mio. € im Jahr 2003. Auch in den Bereichen „Gesundheit, Umwelt, Sport und Erholung“ sind die Mehrausgaben nach zunächst 190 und 200 Mio. € auch im Jahr 2003 mit 47,5 Mio. € immer noch erwähnenswert. In diesen Bereichen sind die zunächst höheren Mehrausgaben in Berlin nahezu vollständig im Bereich Sport und Erholung angefallen. Die größten Ausgabenvorsprünge Berlins ergeben sich im Bereich Wohnungswesen mit Beträgen von jeweils deutlich über einer Milliarde Euro, was einer jährlichen Differenz der Ausgaben pro Kopf gegenüber Hamburg von nahezu 400 Mio. € entspricht.

c) Auch Verbesserungen der Einnahmesituation Berlins sind möglich. Das betrifft insbesondere die Erhöhung des Gewerbesteuerhebesatzes und die Erzielung weiterer Privatisierungserlöse. Nach Angaben des Berliner Senats bestehen trotz erheblicher Aktivierung von Vermögen in den Jahren 1994 bis 2003 nach wie vor relevante Möglichkeiten der Vermögensveräußerung. Hierbei ist auch der landeseigene Wohnungsbestand in den Blick zu nehmen, dessen möglichen Veräußerungserlös der Senat mit etwa 5 Mrd. € ansetzt. Eine derartige Einmaleinnahme auf Grund von Veräußerungen bedeutete für die Haushaltswirtschaft eine dauerhafte Entlastung, wenn der Erlös in die Schuldentilgung flösse und die hierdurch eintretende Reduzierung der Zinslast die Nettoeinnahmen aus der Bewirtschaftung des Wohnungsbestandes überstiege.

Quelle: Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht

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