Arbeitsmarkt-Experte Sell kritisiert offizielle Arbeitslosenstatistik: "Es geht ganz klar darum, die Zahlen zu drücken"
Archivmeldung vom 14.09.2017
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Freigeschaltet durch André OttZwei Wochen vor der Bundestagswahl brüstet sich die Große Koalition unter Angela Merkel mit ihren Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt - nach Auffassung des Arbeitsmarkt-Experten Prof. Dr. Stefan Sell jedoch nicht immer zu Recht: "Wir haben tatsächlich in den letzten vier Jahren eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gehabt - allerdings nur für einen Teil der Arbeitnehmer. 40 Prozent der Arbeitnehmer haben heute real weniger Geld als noch Mitte der Neunziger Jahre, weil deren Lohnentwicklung zurückgeblieben ist", sagte der Professor der Hochschule Konstanz am Mittwoch live bei stern TV. Insbesondere für Menschen, die schon länger ohne Arbeit sind, habe sich die Situation nicht verbessert: "Von der guten Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre haben die Langzeitarbeitslosen am wenigsten profitiert."
Auch die Arbeitslosenzahl von 2,5 Millionen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wahlkampf oft als Erfolg bezeichnet, sei laut Sell beschönigt - vielmehr liege die Zahl tatsächlich bei 3,5 Millionen Arbeitslosen. So würden mitunter kurzfristige Beschäftigungsmaßnahmen genutzt, um die Zahlen niedriger zu halten: "Wenn man zwei Wochen in einem Kurs ist, 'Wie bewerbe ich mich richtig in den Zeiten des Internets', zählt man zu diesem Zeitpunkt nicht als Arbeitsloser, ist es aber natürlich weiterhin." Die Gründe dafür sind für Sell eindeutig: "Es geht ganz klar darum, die Zahlen zu drücken. Die Bundesagentur für Arbeit weist auch die höhere Zahl jeden Monat aus, man muss in den Tabellen nur etwas weiter nach unten gehen, um sie zu sehen."
Zudem forderte Stefan Sell bei stern TV einen höheren Mindestlohn. So brauche man derzeit bei 45 Jahren Arbeit in Vollzeit einen Mindestlohn von knapp zwölf Euro, um nicht in die Altersarmut zu rutschen. Derzeit liegt der Mindestlohn in Deutschland bei 8,84 Euro. Für Sell ein klarer Fall: "Der Mindestlohn müsste eigentlich höher angesetzt werden."
Zuvor hatte stern TV nach vier Jahren Großer Koalition ein Fazit gezogen und Menschen vorgestellt, die längere Zeit von Arbeitslosigkeit betroffen sind oder waren - unter anderem Julia Kukielski, die im Jahr 2010 nach einem Jahr Hartz IV mit Hilfe von stern TV einen neuen Job gefunden hatte, und den Langzeitarbeitslosen Oliver Nothers, der bereits seit 13 Jahren von Hartz IV lebt.
Quelle: STERN TV (ots)