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Demokratisches Diktatorialregime

Archivmeldung vom 09.06.2005

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 09.06.2005 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Michael Dahlke

Mit ultimativen Drohungen begleiten deutsche Politiker die europäischen Krisengespräche im Vorfeld des EU-Gipfeltreffens am 16./17. Juni in Brüssel. german-foreign-policy.com, berichtet

Bundeskanzler Schröder warnt vor kriegerischen Auseinandersetzungen. Für Frieden und Demokratie könnten "nur Europa und die Europäische Union" sorgen. Wolfgang Schäuble, einer der maßgeblichen CDU-Außenpolitiker, verlangt einen weit reichenden Abbau der EU-Finanzhilfen für die Staaten Westeuropas. Deutsche think tanks befürworten die Umsetzung zentraler Teile des EU-Verfassungsvertrages auch gegen den Willen einzelner Nationalstaaten. Dazu müsse ein "europäisches Referendum" und die Einsetzung einer "europäischen Regierung" in Betracht gezogen werden, heißt es in Berlin. Für die demokratische Zurückweisung des Verfassungsvertrages ("Desaster") macht die deutsche Außenpolitik ein "Führungsdefizit der politischen Eliten" verantwortlich und rät zu Wechseln an der französischen Staatsspitze.

1914

Wie ein Berliner Regierungssprecher mitteilt, sei es "die feste Auffassung des Bundeskanzlers, dass nur Europa und die Europäische Union den Rahmen für dauerhaften Frieden, Freiheit, Wohlstand und auch für Demokratie bilden könnten".1) Den impliziten Hinweis auf chaotische Entwicklungen im Falle anhaltender EU-Resistenz ergänzt der SPD-Europa-Abgeordnete Ulrich Stockmann um Parallelen zum Ersten Weltkrieg. Wenn den nationalen Parlamenten jetzt keine Ergänzung der EU-Verfassung gestattet werde, könnten "Allianzen" entstehen, wie sie "schon 1914 in den Super-Gau des 20. Jahrhunderts führte(n)".2)

Neuer Schwerpunkt

Das verzweifelte Bemühen sozialdemokratischer Kreise, den Mantel der industrie- und militärpolitischen Inhalte des Verfassungsvertrags durch Nachverhandlungen zu retten, stößt bei der konservativen Opposition auf Desinteresse. So fordert der CDU-Außenpolitiker Wolfgang Schäuble weder Textänderungen noch Neubefassung, sondern "Konzentration auf das Wesentliche".3) Die Chancen, die EU-Verfassung in Kraft setzen zu können, seien "äußerst gering"4) , erklärt Schäuble und verlangt sofortige Maßnahmen auf der Grundlage des Nizza-Vertrags. Die Agrar-Etats müssten gekürzt werden5) , Regionalförderungen seien aus Westeuropa (Spanien, Irland) in das traditionelle osteuropäische Interessengebiet Berlins zu verlagern. "Da muß man Frankreich sagen, mit der Agrarpolitik geht das so nicht weiter", erklärt Schäuble: "Da muß man mit Spanien reden (...), daß der neue Schwerpunkt im Osten liegt."6)7)

Auch London müsse seine Netto-Zahlungen an Brüssel erhöhen, verlangt der CDU-Außenpolitiker. Die konservativen Vorschläge erklären weite Teile des Verfassungsvertrags zum Beiwerk, auf das verzichtet werden könne, um das industriepolitische Konzentrat zu wahren und nach Möglichkeit anzureichern. Damit kehrt die CDU-Fraktion der deutschen Außenpolitik auf Positionen des Jahres 1994 zurück, als ähnliche Vorschläge als "kerneuropäisch" bezeichnet wurden und schwere Spannungen mit Frankreich hervorriefen.

Keine Referenden

Mit einer weiteren Variante, die CDU- und SPD-Positionen verbinden möchte, meldet sich das Bertelsmann-Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) zu Wort. Angesichts des Scheiterns des Ratifikationsprozesses schlägt der CAP-Direktor Werner Weidenfeld die Umsetzung "grosse(r) Teilausschnitte der Verfassung" mittels "Einzelverträge(n)" vor - da sie "keiner grösseren Ratifizierung bedürfen".8) Weidenfeld möchte ohne Zustimmung der nationalen Souveräne ganze Regierungsbereiche aus der einzelstaatlichen Verantwortung lösen. "Wenn die EU einen Vertrag verabschiedet, um einen europäischen Aussenminister einzuführen, kommt niemand auf die Idee, deswegen eine Volksabstimmung durchzuführen", umschreibt Weidenfeld die zukünftige Entsorgung der Außenämter in Paris, Rom oder Warszawa. Der Politikberater, zugleich Vorstandsmitglied der vom größten europäischen Medienkonzern9) unterhaltenen Bertelsmann-Stiftung, empfiehlt: "Man könnte in einem oder - besser noch - in mehreren Texten den dringend notwendigen Reformkern sichern, ohne polarisierende Plebiszite bemühen zu müssen."10)

Vorbild

Die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) stößt das internationale Staatsrecht vollends um und zieht die Einsetzung einer "europäischen Regierung" in Betracht - auch gegen den Willen einzelner Bevölkerungsmehrheiten. Wie es in einem soeben erschienenen Papier des think tanks heißt, sei die "jetzige Situation, daß einige Länder durch Volksabstimmung (...) die Verfassung zu Fall bringen, während die Bürger anderer Länder keine direkte Stimme haben, (...) nicht haltbar".11) Referenden müssten in Zukunft europaweit durchgeführt werden, ohne dass einzelne Staaten über ein Vetorecht verfügen dürfen, schreibt die SWP. Demnach würde etwa die Bevölkerung Deutschlands das Pariser "Nein" überstimmen können - der Wille des französischen Souveräns und seine Verfassung wären außer Kraft gesetzt. Um solche tatsächlichen Diktatorialmaßnahmen zu ermöglichen, sollten grenzübergreifende Parteistrukturen geschaffen werden, heißt es bei der SWP. Die Vorfeldorganisation der Berliner Außenpolitik hat auch schon über die Umsetzung nachgedacht: Durch "Erarbeitung europaweit einheitlicher Parteiprogramme nach dem Vorbild der Grünen".

Regierungswechsel

In Vorbereitung auf den erwarteten deutschen Regierungswechsel im Herbst stimmt sich Berlin auf neue Konstellationen ein und rät zu Umbesetzungen an der französischen Staatsspitze. Der CDU-Außenpolitiker Schäuble wirft Jacques Chirac "arrogante Unsensibilität"12) vor, CAP-Direktor Weidenfeld beklagt "ein generelles Führungs- und Überzeugungsdefizit der politischen Eliten in Europa". Ein "Duo, das gut harmoniert" - so Weidenfeld -, bestünde aus "Frau Merkel als Kanzlerin" und "Herrn Sarkozy als Präsident".

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