Joschka Fischer über Ariel Scharon: "Er war nie ein Mann des Friedens"
Archivmeldung vom 11.01.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.01.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIn einer persönlichen Erinnerung an den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon zieht der ehemalige Außenminister Joschka Fischer eine kritische Bilanz über dessen Amtszeit. "Er war weder als Politiker noch gar als Militär ein Mann des Friedens", schreibt Fischer in der ZEIT.
Einerseits habe Scharon mit dem Rückzug aus dem Gaza-Streifen zum
ersten Mal besetztes palästinensisches Gebiet ohne Gegenleistung der
anderen Seite aufgegeben. "Dies war ein unerhörter, ja fast
revolutionär zu nennender Vorgang. Dies ist Ariel Scharons bleibendes
Verdienst", schreibt Fischer. Andererseits aber sei Scharon "der
politische Ziehvater der territorialen Expansion und damit der
israelischen Siedlungsbewegung" gewesen. Seine grundsätzliche Skepsis
gegenüber den Palästinensern als Verhandlungspartner habe er nie
verloren. "Er glaubte niemals ernsthaft an die Möglichkeit eines
Friedens mit den Palästinensern und schon gar nicht mit Jassir
Arafat", so Fischer. Und weiter: "Er sah in Arafat und der
palästinensischen Führung keinen Partner, und er wollte nicht
verhandeln. Wir haben uns oft über diesen Punkt unterhalten, und
dabei brachte der Premierminister immer wieder seine Überzeugung zum
Ausdruck, dass erstens die arabische Seite auf absehbare Zeit Israel
nicht wirklich akzeptieren würde und dass zweitens auf beiden Seiten
die Vorstellungen über einen Endstatus zu weit auseinander lägen und
deshalb in Verhandlungen nicht überbrückbar wären." Auch in der Frage
des Status von Jerusalem "war und ist er völlig unbeweglich".
Gleichwohl habe Scharon mit dem einseitigen Rückzug aus Gaza die
politischen Perspektiven für den Nahen Osten nachhaltig verändert.
"Hinter die strategische Wende Israels von der Offensive zum Rückzug,
die Ariel Scharon eingeleitet hat, wird es kaum einen Weg zurück
geben, gleich, wie die kommenden Wahlen auf beiden Seiten ausgehen
werden", glaubt der ehemalige Bundesaußenminister, der selbst
mithalf, einen Friedensfahrplan ("Roadmap") für die Region zu
entwerfen. Nun komme es allerdings darauf an, "entscheidende
Schwächen" von Scharons Politik auszubessern. Dazu zähle eine
Perspektive für die ehemals besetzen Gebiete. "Darauf gab es niemals
eine befriedigende Antwort von der israelischen Seite", schreibt
Fischer. "Sie erschöpfte sich in der knappen Feststellung, Gaza und
seine Entwicklung wäre dann fortan eine Sache der Palästinenser."
Der Ex-Außenminister mahnt: "Ein de facto palästinensischer Staat
als so genannter failing state, das heißt von Israel militärisch
aufgegebene, zerstückelte, miteinander kaum verbundene und nicht
wirklich lebensfähige palästinensische Territorien, die in
Radikalisierung und Chaos zu versinken drohen, ist ein Albtraum für
die Sicherheit Israels und seine langfristigen Interessen." Fischers
Fazit: "Ariel Scharon hat mit dem Rückzug aus Gaza eine historische
Wende angestoßen, vollenden müssen diesen Weg nun vermutlich andere."
Quelle: Pressemitteilung DIE ZEIT