Kassenarztchef wirft Robert-Koch-Institut "falschen Alarmismus" vor: Auch 10.000 Neuinfektionen kein Drama
Archivmeldung vom 10.10.2020
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Freigeschaltet durch André OttKassenarztchef Andreas Gassen hat Warnungen, die Corona-Pandemie gerate außer Kontrolle, auch angesichts steigender Neuinfektionen als irreführend kritisiert. "Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, das führt zu falschem Alarmismus", sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ).
Gassen weiter: "Selbst 10.000 Infektionen täglich wären kein Drama, wenn nur einer von 1000 schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten." Gassen reagierte damit auf Aussagen von Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, der am Donnerstag vor einem Kontrollverlust gewarnt hatte.
Im Frühjahr habe es bei 4000 Neuerkrankten täglich bis zu 150 Corona-Tote gegeben, erläuterte Gassen. "Das ist vorbei. Jetzt sind es einstellige Sterbezahlen. Solange das Verhältnis so bleibt, sind Neuinfektionen im fünfstelligen Bereich kaum relevant." Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei "auch in Herbst und Winter nicht abzusehen", sagte der Arzt der NOZ.
Gassen forderte: "Wir müssen weg davon, allein die Zahl der Neuinfektionen in den Fokus zu rücken." Bei den unter 20-Jährigen gebe es bis letzte Woche zwei Todesfälle, beide Personen seien vorerkrankt gewesen. Diese Altersgruppe werde man mit Warnungen vor der Gefährlichkeit der Erkrankung nicht erreichen. Sein Appell: "Wir sollten das Infektionsgeschehen viel stärker nach Altersgruppen aufschlüsseln und gezielter reagieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit einer vernünftigen Kommunikation durchaus wieder mehr Normalität zulassen können - mit der Möglichkeit, die Bremse rasch wieder anzuziehen."
Konkret forderte der Kassenarztchef, die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, ab der Kreise und Städte zu Risikogebieten erklärt werden, deutlich anzuheben: Die Zahl 50 stamme aus einer Zeit mit wöchentlich 400.000 Tests und hoher Positiven-Rate. Inzwischen werde dreimal so viel getestet bei viel weniger Test-Positiven. "Die Zahl muss den Entwicklungen angepasst werden, unter Berücksichtigung der niedrigeren Positivquote käme man aktuell auf einen Schwellenwert von 84 pro 100.000", erläuterte der KBV-Vorsitzende. Als starrer und alleiniger Indikator für das Ergreifen einschneidender Maßnahmen sei die Zahl ohnehin ungeeignet.
Statt gezielt zu agieren, "übertreffen sich einzelne Länder immer wieder mit Rufen nach rigideren Maßnahmen fast bis hin zu neuen Lockdown- Forderungen", beklagte Gassen in der NOZ. "Dieser würde das Land sicherlich sowohl wirtschaftlich als auch moralisch endgültig in die Knie zwingen. Medizinisch ist das zurzeit auch nicht zu begründen." Profilierungsversuche einzelner Landesfürsten nutzten der Sache nicht, sagte Gassen. "Das föderale Tohuwabohu sollte aufhören. Wir halten die Menschen nur bei der Stange, wenn es auch Fortschritte gibt, wenn die Bürger merken, dass sich ihre Disziplin auszahlt, sonst machen sie mental dicht", warnte er. "In England werden Quarantänemaßnahmen missachtet. Wenn auch wir da landen, wäre das desaströs."
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)