Historikerin: Die Neue Rechte nutzt Mittel der Neuen Linken
Archivmeldung vom 05.03.2018
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Freigeschaltet durch André OttAfD, Pegida und Identitäre haben nach Auffassung der Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey wesentliche Strategien der 68er-Bewegung adaptiert. In einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Montag) sagte die Bielefelder Historikerin, "die Neue Rechte hat ohne Frage Elemente der Transformations- und Aktionsstrategie der Neuen Linken übernommen. Sie wendet auch die Strategie der begrenzten Regelverletzung an, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, und besetzt im Sinne der Revolution der Wahrnehmung Begriffe und Ideen neu".
Wenn auch die Neue Rechte wie die 68er für sich in Anspruch nehme, in Staat und Medien nicht hinreichend repräsentierten gesellschaftlichen Strömungen basisdemokratisch Gehör zu verschaffen, handele es sich gleichwohl um keine 68er-Bewegung von rechts, erklärte Gilcher-Holtey. "Wichtig ist doch die Frage, für welche andere Gesellschaft treten Pegida oder die Identitären ein? Die Bewegung, die von rechts angestrebt wird, zielt nicht auf Basis-, sondern Elitendemokratie. Sie zielt nicht auf konsensuale Entscheidung, sondern auf Führer. Das ist das Gegenteil von 1968."
Die Historikerin wandte sich dagegen, das Jahr der Studentenproteste zu überschätzen. Es habe sich um keine Revolution gehandelt. "1968 war eine soziale Bewegung. Solche Bewegungen setzen ihre Leitwerte nicht direkt um. Täten sie das, hätten wir eine Revolution. Aber sie tun das nicht", sagte sie. "Die reale Veränderung obliegt anderen Trägergruppen", sagte Gilcher-Holtey und gab ein Beispiel: "1968 hat nicht die Familie abgeschafft. 1968 hat ein verändertes Verhältnis von Mann und Frau experimentell erprobt, was oft scheiterte - die Kommunen überlebten nicht lang. Aber es wurde etwas in Bewegung gesetzt. Das Männerbild, das Frauenbild begann sich zu verändern", erklärte die Wissenschaftlerin, die drei Standardwerke über die Studentenproteste in Europa verfasst hat.
Gilcher-Holtey kritisierte zudem Historiker wie Götz Aly und Gerd Koenen als "Erinnerungsunternehmer", die in vielen Dingen kein realistisches Bild und ein in der Regel zu negatives Bild der damaligen Zeit zeichneten. Ihre "Wahrnehmung eines Scheiterns" der dogmatischen Phase der Demobilisierung überdecke, dass vieles aus der frühen Phase der Bewegung bis heute weiterlebe.
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)