Historiker kritisieren Danziger Rede von Bundespräsident Gauck
Archivmeldung vom 06.09.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBei Historikern stößt die Danziger Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs auf ein zwiespältiges Echo: Namhafte Geschichtsprofessoren kritisieren in der "Süddeutschen Zeitung" die Schärfe, in der Gauck am 75. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen Russland wegen dessen Vorgehens gegen die Ukraine attackiert hatte. Der Bundespräsident habe damit "zur Eskalation der Worte" beigetragen, schreibt der Freiburger Historiker Ulrich Herbert.
Er wirft Gauck Einseitigkeit vor: Darauf, dass auch Russland begründete Ängste etwa vor einem Nato-Beitritt der Ukraine habe, sei der Bundespräsident "gar nicht eingegangen". Vor allem stoßen er und andere Geschichtsprofessoren sich an der Art, in der Gauck seine Attacken auf die russische Regierung mit dem Argument begründete, der Westen müsse Lehren aus der Geschichte ziehen.
"Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern", hatte der Bundespräsident während des Festakts auf der polnischen Westerplatte gesagt. Gauck hatte den Widerstand des Westens gegen Russlands Vorgehen im Krieg in der Ostukraine beschworen: "Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Länder militärisch unterstützen", hatte er gesagt und Russland vorgeworfen, die Partnerschaft, um die sich EU und Nato bemüht hätten, "de facto aufgekündigt" zu haben.
Der Jenaer Historiker Norbert Frei hält Gauck vor, es sei nicht Aufgabe des deutschen Bundespräsidenten die Stärke des Westens zu demonstrieren - "schon gar nicht auf der Westerplatte, nur 75 Jahre danach".
Der Osteuropa-Historiker Jochen Hellbeck, der in New Jersey lehrt, bemängelt, dass Gauck "kein Wort" über den deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion verloren habe. So gieße der Bundespräsident "weiteres Öl ins Feuer".
Der Münchner Zeithistoriker Andreas Wirsching wendet sich dagegen, die aktuelle Lage in der Ukraine mit historischen Vergleichen zu belasten: "Die Einzigartigkeit jeder historischen Konstellation verbietet es, einfache Parallelen abzuleiten."
Andere Wissenschaftler springen dem Bundespräsidenten jedoch ausdrücklich bei. "Es ist beruhigend zu wissen, dass es an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Präsidenten gibt, der nicht nur den Toten und den Opfern seine Ehre erweist, sondern auch von dem spricht, was heute der Fall ist", schreibt der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel. Den Angriff Russlands auf die Ukraine in der Rede nicht vorkommen zu lassen, "wäre etwas Gespenstisches, ja Unmoralisches gewesen".
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler nimmt Gauck vor seinen Kritikern in Schutz: "Wenn man nicht sagen darf, was man gelernt hat, oder das Gelernte nur für die Deutschen, sonst aber für niemanden gilt, dann hat man tatsächlich nichts gelernt."
Quelle: dts Nachrichtenagentur