Neujahrsansprache: Merkel bezeichnet 2020 als "Jahr des Lernens"
Archivmeldung vom 31.12.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 31.12.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in ihrer Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 2020/21 die zurückliegenden zwölf Monate als "Jahr des Lernens" bezeichnet. "Wir mussten im Frühjahr auf ein Virus reagieren, über das es kaum gesichertes Wissen und Informationen gab, wir mussten Entscheidungen treffen, von denen wir zunächst nur hoffen konnten, dass sie sich als richtig erweisen würden", sagt Merkel laut vorab verbreitetem Redetext, und sparte nicht mit Superlativen:
Die Coronavirus-Pandemie sei "eine politische, soziale, ökonomische Jahrhundertaufgabe" und eine "historische Krise".
Diese habe "allen viel und manchen zu viel auferlegt". Diese Tage und Wochen seinen "schwere Zeiten" und so werde es auch noch "eine ganze Weile bleiben". Gleichzeitig wagte Merkel einen Blick auf die im Herbst bevorstehende Bundestagswahl, zu der sie "nicht wieder antreten werde".
Offensichtlich rechnet die Kanzlerin mit einer schnelleren Regierungsbildung als nach der letzten Bundestagswahl, als erst im nächsten Jahr die Regierung stand: Dieses Silvester sei deswegen "aller Voraussicht nach" das letzte Mal, dass sie sich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an die Bevölkerung wenden dürfe. "Nie in den letzten 15 Jahren haben wir alle das alte Jahr als so schwer empfunden - und nie haben wir trotz aller Sorgen und mancher Skepsis mit so viel Hoffnung dem neuen Jahr entgegengesehen", sagte die Kanzlerin.
Neujahrsansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wortlaut
Hörfunk- und Fernsehsender strahlen am Silvesterabend ab 18 Uhr die Neujahrsansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aus. Hier der Text der Ansprache im Volltext: "Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger, was für ein Jahr liegt hinter uns! 2020 ist etwas über uns gekommen, womit die Welt nicht gerechnet hatte. Ein bis dahin unbekanntes Virus dringt in unsere Körper und unsere Leben ein. Es trifft uns da, wo wir am allermenschlichsten sind: im engen Kontakt, in der Umarmung, im Gespräch, beim Feiern. Das Virus macht normales Verhalten zu einem Risiko - und ganz ungewohnte Schutzmaßnahmen normal. 2020, dieses Jahr der Pandemie, war ein Jahr des Lernens. Wir mussten im Frühjahr auf ein Virus reagieren, über das es kaum gesichertes Wissen und Informationen gab. Wir mussten Entscheidungen treffen, von denen wir zunächst nur hoffen konnten, dass sie sich als richtig erweisen würden. Die Coronavirus-Pandemie war und ist eine politische, soziale, ökonomische Jahrhundertaufgabe. Sie ist eine historische Krise, die allen viel und manchen zu viel auferlegt hat. Ich weiß, dass es ungeheures Vertrauen und Geduld von Ihnen verlangt hat und weiter verlangt, sich auf diesen historischen Kraftakt einzulassen. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Am Ende dieses atemlosen Jahres heißt es auch, einmal innezuhalten - und zu trauern. Wir dürfen als Gesellschaft nicht vergessen, wie viele einen geliebten Menschen verloren haben, ohne ihm in den letzten Stunden nah sein zu können. Ich kann ihren Schmerz nicht lindern. Aber ich denke an sie, gerade auch heute Abend. Ich kann nur ahnen, wie bitter es sich anfühlen muss für die, die wegen Corona um einen geliebten Menschen trauern oder mit den Nachwirkungen einer Erkrankung sehr zu kämpfen haben, wenn von einigen Unverbesserlichen das Virus bestritten und geleugnet wird. Verschwörungstheorien sind nicht nur unwahr und gefährlich, sie sind auch zynisch und grausam diesen Menschen gegenüber. 2020 war bestimmt von Sorge und Ungewissheit. Zugleich war es aber auch ein Jahr, in dem so viele über sich hinausgewachsen sind, ohne das an die große Glocke zu hängen. Das beweisen uns die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen. Das zeigt sich bei den Mitarbeitern der Gesundheitsämter, die so plötzlich ins Zentrum des Kampfes gegen das Virus gerückt sind. Das sehen wir an der Einsatzfreude unserer Bundeswehr, die an allen Ecken und Enden Unterstützung leistet. Unzählige Menschen haben dazu beigetragen, dass unser Leben trotz Pandemie weiter möglich war: in den Supermärkten und im Gütertransport, in den Postfilialen, in Bussen und Bahnen, auf den Polizeiwachen, in den Schulen und Kitas, in den Kirchen, in den Redaktionen. Ich bin auch immer wieder dankbar dafür, wie diszipliniert die allermeisten Menschen ihre Masken tragen, wie sie sich um Abstand bemühen. Darin drückt sich für mich aus, was ein Leben in einer menschenfreundlich en Gesellschaft erst möglich macht: Rücksichtnahme auf andere, die Einsicht, sich selbst auch einmal zurückzunehmen, das Bewusstsein von Gemeinsinn. Diese Haltung von Millionen von Mitbürgern hat uns auf unserem bisherigen Weg durch die Pandemie manches erspart. Sie wird auch im kommenden Jahr nötig sein. Was lässt mich hoffen" Seit wenigen Tagen hat die Hoffnung Gesichter: Es sind die Gesichter der ersten Geimpften, der ganz Alten und ihrer Pfleger und Pflegerinnen, des medizinischen Personals auf den Intensivstationen - nicht nur bei uns, sondern in allen europäischen und vielen anderen Ländern. Tagtäglich werden es mehr, schritt-weise werden andere Alters- und Berufsgruppen dazukommen - und dann alle, die es möchten. Auch ich werde mich impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin. Hoffen lassen mich auch die Wissenschaftler - weltweit, aber gerade auch bei uns in Deutschland. Der erste verlässliche Coronatest wurde hier entwickelt - und nun auch der erste in Europa und vielen Ländern der Welt zugelassene Impfstoff. Er ist aus der Forschungsarbeit eines deutschen Unternehmens hervorgegangen und wird jetzt als deutsch-amerikanische Koproduktion hergestellt. Die Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci aus Mainz haben mir erzählt, dass Menschen aus 60 Nationen in ihrem Unternehmen arbeiten. Nichts könnte besser zeigen, dass es die europäische und internationale Zusammenarbeit, dass es die Kraft der Vielfalt ist, die den Fortschritt bringt. Die Aufgaben, vor die die Pandemie uns stellt, bleiben gewaltig. Bei vielen Gewerbetreibenden, Arbeitnehmern, Solo-Selbstständigen und Künstlern herrschen Unsicherheit, ja Existenzangst. Die Bundesregierung hat sie in dieser ganz unverschuldeten Notlage nicht allein gelassen. Staatliche Unterstützung in nie dagewesener Höhe hilft. Verbesserte Kurzarbeitsregeln greifen. Arbeitsplätze können so bewahrt werden. Ist also auch im neuen Jahr alles Corona? Nein, und das war es auch im alten nicht. Nicht erst seit Beginn der Pandemie verändert sich die Welt, in der wir leben, rasant und grundlegend. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland mit all seiner Kraft und seiner Kreativität mutige Ideen für die Zukunft entwickelt. Dass unser Wirtschaften, unsere Mobilität, unser Leben klimaschonend wird. Dass alle Menschen in Deutschland von gleichwertigen Lebensverhältnissen und echter Bildungsgerechtigkeit profitieren können. Dass wir uns auch mit Europa besser behaupten in der globalisierten, digitalisierten Welt. Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, diese Tage und Wochen, da gibt es nichts zu beschönigen, sind schwere Zeiten für unser Land. Und so wird es auch noch eine ganze Weile bleiben. Es wird noch eine ganze Zeit an uns allen liegen, wie wir durch diese Pandemie kommen. Der Winter ist und bleibt hart. Wir wissen ja, was wir dem Virus entgegensetzen können. Die neben dem Impfstoff wirksamsten Mittel haben wir selbst in der Hand, indem wir uns an die Regeln halten, jeder und jede von uns. Wir alle zusammen. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas Persönliches sagen: In neun Monaten ist Bundestagswahl, zu der ich ja nicht wieder antreten werde. Dies ist deshalb heute aller Voraussicht nach das letzte Mal, dass ich mich als Bundeskanzlerin mit einer Neujahrsansprache an Sie wenden darf. Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Nie in den letzten 15 Jahren haben wir alle das alte Jahr als so schwer empfunden - und nie haben wir trotz aller Sorgen und mancher Skepsis mit so viel Hoffnung dem neuen Jahr entgegengesehen. Und so wünsche ich Ihnen und Ihren Familien von Herzen Gesundheit, Zuversicht und Gottes Se gen für das neue Jahr 2021."
Quelle: dts Nachrichtenagentur