Bundespräsident: "Wir sind verwundbar"
Archivmeldung vom 11.04.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.04.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch André OttBundespräsident Frank-Walter Steinmeier wendet sich in der Coronakrise mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung, die am Samstagabend von ARD und ZDF ausgestrahlt wird. Die Pandemie zeige, "Ja, wir sind verwundbar", sagte Steinmeier in der Rede, die bereits am Mittag aufgezeichnet wurde.
Steinmeier weiter: "Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht - das war ein Irrtum." Wann und wie die Einschränkungen gelockert werden könnten, "darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten", so Steinmeier: "Sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und unsere Disziplin - gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt."
Die Welt danach werde eine andere sein. "Wie sie wird? Das liegt an uns!" Deutschland stehe jetzt an einer Wegscheide, sagte der Bundespräsident.
"Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können: Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen und für die Gesellschaft?" Deutschland müsse sich auch mit anderen europäischen Ländern solidarisch zeigen.
"Deutschland kann nicht stark und gesund aus der Krise kommen, wenn unsere Nachbarn nicht auch stark und gesund werden", so Steinmeier. "Dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges sind wir Deutsche zur Solidarität in Europa nicht nur aufgerufen - wir sind dazu verpflichtet."
Corona-Ansprache von Bundespräsident Steinmeier im Wortlaut
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Samstag eine
Fernsehansprache zur Corona-Pandemie gehalten. Hier der Volltext im
Wortlaut: "Guten Abend, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! In wenigen
Stunden beginnt das Osterfest. Draußen erblüht die Natur und wir sehnen
uns hinaus ins Freie - und zueinander: zu lieben Menschen, Familie,
Freunden. So waren wir es gewohnt. So gehörte es dazu. Doch dieses Jahr
ist alles anders. Es tut weh, auf den Besuch bei den Eltern zu
verzichten.
Großeltern zerreißt es das Herz, nicht wenigstens an Ostern
die Enkel umarmen zu können. Und viel mehr noch ist anders in diesem
Jahr. Kein buntes Gewimmel in Parks und Straßencafés. Für viele von
Ihnen nicht die lang ersehnte Urlaubsreise. Für Gastwirte und Hoteliers
kein sonniger Start in die Saison. Für die Gläubigen kein gemeinsames
Gebet. Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es
weitergehen? Ausgerechnet an Ostern, dem Fest der Auferstehung, wenn
Christe
n weltweit den Sieg des Lebens über den Tod feiern, müssen wir uns
einschränken, damit Krankheit und Tod nicht über das Leben siegen. Viele
Tausend sind gestorben. Bei uns im eigenen Land. Und in Bergamo, im
Elsass, in Madrid, New York und vielen anderen Orten auf der Welt.
Die
Bilder gehen uns nah. Wir trauern um die, die einsam sterben. Wir denken
an ihre Angehörigen, die nicht einmal gemeinsam Abschied nehmen können.
Wir danken den unermüdlichen Lebensrettern im Gesundheitswesen. Und: So
sehr unser aller Leben auf dem Kopf steht, so denken wir an die, die
die Krise besonders hart trifft - die krank oder einsam sind; die Sorgen
haben um den Job, um die Firma; die Freiberufler, die Künstler, denen
Einnahmen wegbrechen; die Familien, die Alleinerziehenden in der engen
Wohnung ohne Balkon und Garten. Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind
verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir
unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Das
war ein Irrtum.
Aber die Krise zeigt uns nicht nur das, sie zeigt uns auch, wie stark
wir sind! Worauf wir bauen können!
Ich bin tief beeindruckt von dem
Kraftakt, den unser Land in den vergangenen Wochen vollbracht hat. Noch
ist die Gefahr nicht gebannt. Aber schon heute können wir sagen: Jeder
von Ihnen hat sein Leben radikal geändert, jeder von Ihnen hat dadurch
Menschenleben gerettet und rettet täglich mehr. Es ist gut, dass der
Staat jetzt kraftvoll handelt - in einer Krise, für die es kein Drehbuch
gab. Ich bitte Sie alle auch weiterhin um Vertrauen, denn die
Regierenden in Bund und Ländern wissen um ihre riesige Verantwortung.
Doch wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert
werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten.
Sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und unsere
Disziplin - gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt.
Den Kraftakt, den wir in diesen Tagen leisten, den leisten wir doch nicht, weil eine eiserne Han d uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern sind! Eine Demokratie, in der wir einander zutrauen, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen, das Richtige zu tun. Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt - und in der es auf jede und jeden ankommt: vom Krankenpfleger bis zur Bundeskanzlerin, vom Expertenrat der Wissenschaft bis zu den sichtbaren und den unsichtbaren Stützen der Gesellschaft - an den Supermarktkassen, am Lenkrad von Bus und LKW, in der Backstube, auf dem Bauernhof oder bei der Müllabfuhr.
So viele von Ihnen wachsen jetzt über sich selbst hinaus. Ich danke Ihnen dafür. Und natürlich weiß ich: Wir alle sehnen uns nach Normalität. Aber was heißt das eigentlich? Nur möglichst schnell zurück in den alten Trott, zu alten Gewohnheiten? Nein, die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir alle, jeden Tag, in dieser Krise machen. Ich glaube: Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen und für die Gesellschaft? Bleibt die geradezu explodierende Kreativität und Hilfsbereitschaft?
Bleiben wir mit dem älteren Nachbarn, dem wir beim Einkauf geholfen haben, in Kontakt? Schenken wir der Kassiererin, dem Paketboten auch weiterhin die Wertschätzung, die sie verdienen? Mehr noch: Erinnern wir uns auch nach der Krise noch, was unverzichtbare Arbeit - in der Pflege, in der Versorgung, in sozialen Berufen, in Kitas und Schulen - uns wirklich wert sein muss? Helfen die, die es wirtschaftlich gut durch die Krise schaffen, denen wieder auf die Beine, die besonders hart gefallen sind? Und: Suchen wir auf der Welt gemeinsam nach dem Ausweg oder fallen wir zurück in Abschottung und Alleingänge?
Teilen wir doch alles Wissen, alle Forschung, damit wir schneller zu
Impfstoff und Therapien gelangen, und sorgen wir in einer globalen
Allianz dafür, dass auch die ärmsten Länder Zugang haben, die am
verwundbarsten sind. Nein, diese Pandemie ist kein Krieg. Nationen
stehen nicht gegen Nationen, Soldaten gegen Soldaten. Sondern sie ist
eine Prüfung unserer Menschlichkeit. Sie ruft das Schlechteste und das
Beste in den Menschen hervor. Zeigen wir einander doch das Beste in uns!
Und zeigen wir es bitte auch in Europa! Deutschland kann nicht stark
und gesund aus der Krise kommen, wenn unsere Nachbarn nicht auch stark
und gesund werden. Diese blaue Fahne steht hier nicht ohne Grund.
Dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges sind wir Deutsche zur Solidarität in Europa nicht nur aufgerufen - wir sind dazu verpflichtet! Solidarität - ich weiß, das ist ein großes Wort. Aber erfährt nicht jeder und jede von uns derzeit ganz konkret, ganz existenziell, was Solidarität bedeutet? Mein Handeln ist für andere überlebenswichtig. Bitte bewahren wir uns diese kostbare Erfahrung. Die Solidarität, die Sie jetzt jeden Tag beweisen, die brauchen wir in Zukunft umso mehr! Wir werden nach dieser Krise eine andere Gesellschaft sein.
Wir wollen keine ängstliche, keine misstrauische Gesellschaft werden. Sondern wir können eine Gesellschaft sein mit mehr Vertrauen, mit mehr Rücksicht und mehr Zuversicht. Ist das, selbst an Ostern, zu viel der guten Hoffnung? Über diese Frage hat das Virus keine Macht. Darüber entscheiden allein wir selbst. Vieles wird in der kommenden Zeit sicher nicht einfacher. Aber wir Deutsche machen es uns ja auch sonst nicht immer einfach. Wir verlangen uns selbst viel ab und trauen einander viel zu. Wir können und wir werden auch in dieser Lage wachsen. Frohe Ostern, alles Gute - und geben wir acht aufeinander!"
Quelle: dts Nachrichtenagentur