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Jens Spahn im Interview: "Es geht hier um Grundrechte, und da gibt es nichts irgendwie zu relativieren oder zu verzögern ..."

Archivmeldung vom 26.04.2021

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 26.04.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Sanjo Babić
Bild: WeltN24 GmbH Fotograf: WeltN24 GmbH
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Vor dem heutigen Impfgipfel war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Interview beim Nachrichtensender WELT. Im Gespräch mit Tatjana Ohm ging es um die momentan wichtigsten Fragen in Bezug auf die Priorisierung beim Impfen, das Beenden von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und die Situation der Jugendlichen.

Das gesamte Interview:

Tatjana Ohm (WELT Nachrichtensender): Wann wird es die Rückkehr für Geimpfte und Genesene zu ihren ganz normalen Grundrechten geben?

Jens Spahn: Es gibt ja verschiedene Facetten. Zum einen wollen wir sehr zügig Geimpfte und aktuell negativ Getestete gleichstellen. Zum Beispiel bei der Einreise braucht man ja einen Test. Da reicht dann in Zukunft, was heißt reicht, ist eigentlich der größere Eingriff, auch die vollständige Impfung. Beim Einzelhandel, beim Friseur, in all diesen Bereichen gleichstellen. Der zweite große Block, gerade sehr aktuell auch, sind z.B. Ausgangsbeschränkungen, Kontaktbeschränkungen, also Einschränkungen von Freiheitsrechten wie sie bei vollständig Geimpften, die kein Risiko mehr auch für andere, oder ein deutlich geringeres Risiko für andere sind, dann so nicht mehr auferlegen können. Und da jetzt einen Weg zu finden, der gelichzeitig auch fair ist und keine spaltende Debatte nach sich zieht - wir merken das ja alle dieser Tage - das ist sehr emotional. Darum geht's gleich in der Diskussion.

Tatjana Ohm: Zeitpunkt wollen oder können Sie nicht nennen?

Jens Spahn: Wir werden das ja in einer Verordnung umsetzen. Der Bundestag hat mit dem Gesetz von letzter Woche dem Infektionsschutzgesetz, der Bundesregierung die Möglichkeit gegeben, diese Erleichterungen für Geimpfte per Verordnung mit Zustimmung des Bundestages umzusetzen. So eine Verordnung braucht schon auch zwei, drei, vier Wochen. Aber das ist dann doch auch zügig angesichts dessen, was so ansteht.

Tatjana Ohm: Also reden wir Pi mal Daumen über Juni, Ende Mai, Anfang Juni?

Jens Spahn: Wissen Sie, ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich mich auf ein genaues Datum festlege ... (Tatjana Ohm: Werden Sie festgenagelt?) Und zwei Tage später ist Ärger. Wir wollen es nicht schuldhaft verzögern. Es geht hier um Grundrechte und da gibt's nichts irgendwie zu relativieren oder zu verzögern, verschleppen. Es muss gut formuliert sein, es wird abgestimmt, wie sich das gehört in der Bundesregierung und das wird in den nächsten Wochen passieren.

Tatjana Ohm: Noch mal um das ganz klarzustellen: Ich bin also zweifach geimpft und kann dann konkret was alles machen? Was ist mit Schwimmbädern? Was ist z.B., ich bin Wirt und will meinen gastronomischen Betrieb wieder aufmachen?

Jens Spahn: Das ist übrigens, Frau Ohm, dann die dritte Kategorie. Die eine ist, Getestete und Geimpfte gleichzustellen. Die zweite ist die Frage, darf ich jemanden, der geimpft ist, einschränken in seiner Freiheit? Das dritte ist ... (Tatjana Ohm: Berufsverbot?) Ja, aber jetzt erst einmal, das dritte ist, dann habe ich einen Anspruch auf den Restaurantbesuch, wenn ich geimpft bin oder auf der auf das Freibad oder das Hallenbad. Das noch nicht. Es gibt keinen Anspruch auf Restaurantbesuch. In dem Moment, wo Restaurants wieder öffnen, kann man dann wieder sagen, ja, für Geimpfte ist der Besuch dann eben ohne weitere Auflagen möglich.

Tatjana Ohm: Jetzt sehen wir erste Fälle oder einige Fälle, unter anderem in Altenheimen, wo vollständig Geimpfte dennoch mindestens mal offenbar weitergegeben haben. Wie gehen wir mit diesen neuen epidemiologischen Erkenntnissen um?

Jens Spahn: Zuerst einmal das nennt sich Impfdurchbrüche in der Fachsprache. Das Robert Koch-Institut untersucht das auch immer, ist dann vor Ort in den Einrichtungen. Und übrigens nicht selten wird es von außen reingetragen in die Einrichtungen, dann die Infektion. Sie überträgt sich in Teilen dann auch. Das ist ja auch eine Erkenntnis, die wir haben. Die Impfung schützt, aber nicht zu 100 Prozent vor der Infektion. Wovor sie schützt, in fast 100 Prozent, ist vor einem schweren Verlauf. Also wir sehen selbst in den Alteneinrichtungen, wo dieses Virus wirklich gewütet hat, sehr hart auch zugeschlagen hat, viele Todesfälle zu beklagen waren: Die Impfung macht einen echten Unterschied. Selbst wenn das Virus noch mal reingelangt, haben wir deutlich weniger schwerste und tödliche Verläufe. Es schützt also.

Tatjana Ohm: Also kommen wir auf die praktischen Umsetzungen. Wie soll das denn hinterlegt werden, dass ich geimpft wurde? Rennen wir jetzt immer alle mit dem gelben Impfbuch rum?

Jens Spahn: Das ist eine Möglichkeit, dass man das auf Papier ganz analog in seinem Impfpass hat. Wir wollen auch ein digitales Zertifikat haben und das abgestimmt in der EU, damit Sie das auch nutzen können, wenn Sie in Spanien oder den Niederlanden oder Polen wo auch immer in der EU unterwegs sind. Dafür mussten Schnittstellen definiert werden. Die sind jetzt weitestgehend definiert und wir sind in der Umsetzung gerade mit Unternehmen, die eine Ausschreibung gewonnen haben. Zielmarke ist, bis zum Sommer das auch zu haben. Auf dem Handy, übrigens auch in der Corona-Warn-App dann verfügbar und die, die schon geimpft sind, können das dann leicht beim Arzt, im Impfzentrum oder vielleicht sogar in der Apotheke nachtragen.

Tatjana Ohm: Bevor wir über die Priorisierung sprechen, ganz aktuell Die Kollegen von der BILD-Zeitung zitieren Sie heute mit einem Satz aus der Präsidiumssitzung. Da sollen Sie gesagt haben, es ist eine große Herausforderung bei Migranten, für die Impfung zu werben. Haben Sie das so gesagt?

Jens Spahn: Es ist so, ich habe gesagt, es gibt bestimmte Gruppen. Das kennen wir auch von anderen Impfungen, wo wir sehr stark werben müssen für eine Impfung. Und das gilt eben vor allem auch bei bestimmten kulturellen Hintergründen. Wenn in dem Heimatland oder dem Land, wo die Familie herkommt, Impfen nicht so populär ist, dann ist es auch manchmal hier so. Und das versuchen wir eben zu adressieren durch Information. Wie übrigens während der ganzen Pandemie schon in über 20 Sprachen, die wir geben, indem wir niedrigschwellig vor Ort sind. Es geht ja nicht nur um den kulturellen Hintergrund, sondern auch die soziale Lage. Das macht auch einen Unterschied, dass wir diejenigen erreichen, die wir auch ansonsten mit Präventionsangeboten schwer erreichen, wenn es um Gesundheit geht. Zielgerichtet bei Social Media, zielgerichtet durch Kampagnen in bestimmten Stadtteilen, zielgerichtet auch möglicherweise in Kooperation mit den Geistlichen, der russisch-orthodoxen Kirche oder den Imamen, also genauso wie mit den katholischen Priestern. Ich möchte einfach, dass wir in allen Lebensbereichen gemeinsam werben fürs Impfen, weil das uns allen zusammen die Freiheit zurückgibt.

Tatjana Ohm: Herr Spahn, nächster großer Themenkomplex natürlich die Priorisierung, die Aufhebung der Priorisierung. Wir hören z.B. von Markus Söder, der will das am besten noch im Mai. Die Sorge so ein bisschen dahinter ist eben auch, dass wir Impfbürokratie haben, die sich dann aufstaut, wir bekommen einen Stau, weil zum Beispiel die Hausärzte dann genügend Stoff zwar haben, aber bis alles, was dahinter an Bürokratie ist, eben abgearbeitet ist bzw. erst einmal die, die dran sind, sozusagen geimpft wurden, dauert alles viel zu lange.

Jens Spahn: Zuerst einmal haben wir Menschenleben gerettet durch die Priorisierung. Dadurch, dass wir zuerst die über 80-jährigen, die Pflegeheimbewohner geimpft haben, sind die Todeszahlen, die schwersten Verläufe hier deutlich zurückgegangen. Jeder zweite Todesfall in Deutschland, den wir zu beklagen haben, ist jemand über 80 gewesen bei COVID-19. Also es war unbedingt richtig aus meiner Sicht, zuerst die besonders Verwundbaren zu impfen. Jetzt sind wir schon deutlich pragmatischer - können wir werden, sind wir ja auch schon in der Priorisierung, weil wir mehr Impfstoff haben. Die nächste Gruppe, die sogenannte Prio-Gruppe 3, wie das heißt - ich will nur mal sagen, wer dazu gehört - die über 60-Jährigen, die Supermarktverkäuferinnen und -verkäufer, die Busfahrer, die Justizbeamten, das sind die Lehrerinnen und Lehrer in den weiterführenden Schulen. Das sind alles Leute, Berufsgruppen, die können kein Homeoffice machen. Und die warten jetzt seit vier, fünf Monaten darauf, dass sie endlich geimpft werden können, um sich zu schützen. Und ich möchte, dass wir zuerst diesen Gruppen jetzt ein Angebot machen im Mai in allen Bundesländern. Der nächste Schritt ist dann die Aufgabe der Priorisierung generell. Ich habe ja gesagt im Juni, wenn es früher geht, weil mehr Impfstoff kommt, gerne auch früher, aber ich finde, zuerst einmal sollten die Verkäuferinnen und Verkäufer und die Busfahrer auch ihre versprochene Impfung bekommen.

Tatjana Ohm: Was, Herr Spahn, ist mit den Jüngeren, die ja doch auch wirklich zu leiden haben. Wir nehmen mal die Teenager ab 16. Biontech ist zugelassen ab 16 Jahren, und die sind ja auch mit am meisten unterwegs, sofern sie denn irgendwie halbwegs dürfen. Warum können wir da nicht sagen, so, und jetzt auch hier gleich mit?

Jens Spahn: Die über 16-Jährigen, die Vorerkrankungen haben, bestimmte, werden ja schon geimpft. Die über 16-Jährigen, die in bestimmten Berufen arbeiten, z.B. im Gesundheitswesen ...

Tatjana Ohm: Ganz normale 16-jährige, Herr Spahn.

Jens Spahn: Aber der ist genauso wie ganz normale 20-Jährige, die wir haben. Ich bin ja auch noch nicht geimpft, mit meinen noch 40 Jahren, weil ich eben noch nicht unter die Priorisierung falle. Und ich finde, jetzt erst mal die zu impfen, die besonders gefährdet sind für einen schwersten Verlauf oder die durch ihren beruflichen Alltag einfach viel größere Risiken haben, wie der Polizist oder die Verkäuferin, der Busfahrer. Die können sich nicht aussuchen, wer sich manchmal auch wie verhält und wem sie so begegnen. Ich kann das, und deswegen finde ich es okay, dass die zuerst geimpft werden.

Tatjana Ohm: Schauen wir noch mal mal auf die Situation bei den unter 16-Jährigen. Wo stehen wir da in Sachen Impfen?

Jens Spahn: Es gibt Studien, die schon begonnen haben für unter 16-jährige. Pfizer-Biontech, oder in Deutschland besser Biontech-Pfizer, hat schon in den USA eine Zulassung für 12- bis 16-Jährige beantragt. Das wollen sie, haben sie uns gesagt, jetzt auch im Mai für Europa machen. Das heißt, wenn das gut geht, haben wir dann auch Richtung Sommer einen Impfstoff für über 12-Jährige. Wir brauchen aber Studien auch bei Kindern. Warum braucht man das? Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, wenn es um Arzneimittel geht. Da muss man schon schauen, was macht die Dosis in einem kleineren, einem heranwachsenden Körper. Und wenn man da dann Studienergebnisse hat, wird es sicherlich, da bin ich sehr zuversichtlich, auch Impfstoffe für Kinder geben. Uns schreiben viele Eltern, die sich Sorgen machen, etwa bei vorerkrankten Kindern. Die wollen die natürlich gerne geimpft wissen. Im Moment müssen wir uns vor allem behelfen, indem wir das Umfeld bestmöglich impfen und schützen, bis wir dann auch die Kinder und Jugendlichen impfen können. Wenn Sie mich jetzt fragen, wann? Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann. Die Studien laufen.

Tatjana Ohm: Noch mal ganz kurz zurück zu den Jüngeren, die ja wieder zurückstecken müssen, wenn es bei dieser Priorisierung bleibt. Machen sie schon seit über einem Jahr. Ist das moralisch noch vertretbar?

Jens Spahn: Die Frage ist ja eine sehr ethische, grundsätzliche Frage Wo beginnen wir mit dem Impfen? Ich habe den Eindruck, es gibt eine sehr hohe Akzeptanz, zuerst diejenigen zu impfen, die ein hohes Risiko haben oder durchs Berufsleben entsprechend auch im Risiko sind, angesteckt zu werden. Wichtig ist ja die Perspektive. Wenn wir sagen, im Juni - ich meine, das sind jetzt noch sechs, acht Wochen, um die es hier geht - können wir allen ein Angebot machen, dann ist das jetzt noch eine Zeit. Ich weiß, im Moment ist jeder Tag lang und wenn man 16 ist, ist sowieso jeder Tag lang. Das weiß ich auch. Aber das ist ja alles absehbar. Das heißt übrigens noch nicht, dass wir im Juni gleich jeden impfen können. Es kann dann jeder sich einen Termin besorgen, aber wir werden sicherlich auch noch im Juli dann einige dieser Termine abarbeiten müssen. Aber schauen Sie, wir haben jetzt jeden vierten Deutschen geimpft. Diese Woche wird es noch jeder fünfte werden. Wir werden im Mai jeden dritten impfen und dann irgendwann jedem, der will, auch ein Angebot gemacht haben. Wir reden hier über Wochen, nicht über viele Monate.

Tatjana Ohm: Herr Spahn, wir müssen noch mal kurz über die wilde Diskussion sprechen, die wir seit Freitag haben. 50 Schauspieler mit einem Video. Sie sind zitiert worden. Sie würden sich mit ihnen, mit einigen davon zusammensetzen, um zu sprechen. Wir haben eine Gegenbewegung seit gestern. "Alle mal ne Schicht machen" heißt der Hashtag von Notärzten, Ärzten, Pflegern. Setzen Sie sich mit denen dann auch zusammen, wollen Sie die Gruppen zusammenbringen? Was ist der Plan?

Jens Spahn: Zuerst einmal rede ich natürlich mit allen, die auch ihre Perspektive auf diese Pandemie haben. Und jemand, der auf der Intensivstation arbeitet und einfach sieht, was dieses Virus anrichtet, der sieht die Dinge im Zweifel anders als jemand, der seinen Beruf seit zwölf Monaten nicht ausüben kann und verständlicherweise einfach gefrustet ist, auch wirtschaftliche Sorgen hat. Was ich wichtig finde als Gesellschaft ist, dass wir tatsächlich miteinander im Gespräch bleiben. Diese unterschiedlichen Perspektiven - im Gespräch miteinander bleiben. Und nicht jeder in seiner WhatsApp-Gruppe und Echokammer bei Facebook ist. Das ist mir immer ein Anliegen gewesen. Das bleibt es auch. Und insofern spreche ich mit fast allen, also mit allen, die gesprächsbereit sind. Wer sagt, ich habe recht und deine Meinung interessiert mich nicht und - ich hab's ja auch schon erlebt bei Veranstaltungen - nur schreit, da ist Diskussion schwierig. Ansonsten versuche ich Diskussionen zu führen, auch wenn ich dann manches deutlich anders sehe. Aber das heißt ja Diskussion: nicht nur die eigene Meinung zu hören.

Quelle: WELT (ots)

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