Björn Engholm: Agenda 2010 hat SPD bis zu neun Prozent ihrer Stammwähler gekostet - "Schwer, die Enttäuschten zurückzuholen"
Archivmeldung vom 11.08.2017
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.08.2017 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch André OttFür Björn Engholm (77) bedeutet die Agenda 2010 einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Sozialdemokratie. Der frühere SPD-Parteichef sagte der "Heilbronner Stimme":
"Man kann für die Agenda 2010 sicher das ein oder andere ökonomische Argument geltend machen. Aber die Agenda hat für die SPD einen tiefen Einschnitt bedeutet. Ich denke, sechs bis neun Prozent unserer Stammwähler sind in das Lager der Nichtwähler und zur Linken abgewandert. Diese Enttäuschten zurückzuholen ist außerordentlich schwer. Ich habe das erlebt, als wir im Norden die letzten Werften schließen mussten. Stolze Werftarbeiter zahlen ihr Leben lang ein und stehen plötzlich mit 56 Jahren als Sozialhilfeempfänger im Abseits. Das haben sie uns auch nicht verziehen."
Seiner Partei rät er, auf das Thema Gerechtigkeit zu setzen. Engholm: "Ich glaube an das Thema Gerechtigkeit. Auch wenn wir ein starkes Wirtschaftswachstum im Land haben und eine ausgesprochen gute Beschäftigungslage, so sind doch 75 Prozent der Deutschen der Meinung, dass es in dieser Gesellschaft nicht wirklich gerecht zugeht. Wenn ich Chemikerin wie die Kanzlerin wäre würde ich sagen: Es geht um die Verringerung der Ungleichverteilung. Das ist nämlich das Hauptproblem. Einkommen und Vermögen, Bildungs- und Aufstiegschancen sind so ungleich verteilt, dass es nach neuen Antworten schreit. Auch wenn die Konjunktur läuft und die Gemüter beruhigt: das Thema Gerechtigkeit ist und bleibt richtig und wichtig. Man muss es auch um den Preis, nicht sofort den ersten Platz bei einer Wahl zu erringen, konsequent verfolgen."
Dass dem Hype um Kanzlerkandidat Martin Schulz die Ernüchterung in den Umfragen gefolgt sei, hat aus seiner Sicht zwei Konsequenzen: "Als Schulz die SPD übernommen hat, lagen wir bei 20, 21 Prozent. Die Partei ist lange durch ein schier endloses Tal marschiert. Und plötzlich gibt es einen neuen Hoffnungsträger, der Erwartungen auslöst, die sich zu einem Hype, einem Rausch auswachsen. Aber ein solcher Hype bricht, wenn er bei der nächsten Umfrage enttäuscht wird, in sich zusammen. Das führt zu einem doppelt negativen Effekt: Demobilisierung der eigenen Leute und Mobilisierung des politischen Gegners."
Zu den Chancen seiner Partei bei der Bundestagswahl sagte er: "Ich denke, die SPD kann noch die 30-Prozent-Marke erreichen. Die CDU hat aber den Vorteil, dass sie vier Koalitionsoptionen hat. Die SPD hat nur zwei, ein Bündnis mit Union oder mit den Grünen. Andere Optionen sehe ich für meine Partei derzeit nicht."
Quelle: Heilbronner Stimme (ots)